Serie: Eine Reihe betrüblicher Ereignisse aka Die schaurige Geschichte von Violet, Sunny und Klaus aka Schauriger Schlamassel (Bände 10 und 11) Autor: Lemony Snicket Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Stellen Sie sich vor, werter Leser, Sie befinden sich in einem Wohnwagenanhänger, der führerlos eine kurvenreiche Gebirgsstraße hinunterschießt. Was würden Sie tun?
Hm, egal wie Ihre Antwort auf meine Frage lautet - sie hat gewiss keine Ähnlichkeit mit Violet Baudelaires Vorgehensweise. Leser des neunten Bandes der Reihe betrüblicher Ereignisse werden sich sicher erinnern, dass Violet (14) und ihr Bruder Klaus (13) durch den schurkischen Grafen Olaf in die soeben beschriebene Notlage gebracht wurden. Wenn Band 10, Der finstere Fels, einsetzt, bindet sich Violet zuerst einmal ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen (stets ihr erster Schritt in vergleichbaren Situationen) und entwirft dann einen Plan: Klaus muss alle vorhandenen klebrigen Substanzen mischen und auf die Anhängerräder gießen, während Violet aus Hängematten Bremsfallschirme bastelt. Selbstredend geht die Rechnung unserer begabten Erfinderin voll auf: Nur wenige Minuten später kommt ihr Gefährt direkt vor einem gähnenden Abgrund zum Stillstand. Wieder einmal sind die Geschwister dem Tod von der Schippe gesprungen.
Sollten Sie, hochgeschätzte Leser, diesen Romananfang witzig oder gar originell finden, so kann ich Ihnen nur die Lektüre des gesamten Buches ans Herz legen. Wenn nicht, dann seien Sie noch einmal gewarnt: Noch haben Sie die Zeit, zurück zur Startseite zu klicken und lieber nach Wissenswertem über w i c h t i g e Werke der Phantastik zu suchen. Wie ich schon mehrfach geschrieben habe, schert sich Daniel Handler alias Lemony Snicket regelmäßig einen feuchten Kehricht um die Realitätsnähe seiner Geschichten. Außerdem wird von Band zu Band deutlicher, dass es ihm ausschließlich darum geht, das Genre des abenteuerlichen Jugendbuchs zu persifflieren, dabei gelegentlich die Welt der Erwachsenen entlarvende Bonmots sowie die Namen interessanter Autoren einzustreuen - und ganz viel Geld zu verdienen.
Nachdem in den Bänden 1 bis 6 die drei Baudelaire-Waisen ("Drei?", werden Sie sich fragen, falls dies Ihre erste Bekanntschaft mit Lemony Snicket ist, aber bitte, haben Sie in diesem Fall ein kleines bisschen Geduld) von einem Vormund zum nächsten geschickt wurden, sah sich Daniel Handler gezwungen, die Handlungsstruktur seiner Bücher leicht zu verändern. Zu diesem Zweck griff er auf einen der ältesten Erzählertricks aller Zeiten zurück, den 'MacGuffin'. Diesen Begriff führte einst Alfred Hitchcock als Bezeichnung für einen an sich unbedeutenden Gegenstand oder Sachverhalt ein, dessen einzige Existenzberechtigung darin besteht, die Handlung am laufen zu halten.
Handlers MacGuffin bis Band 10 ist "F. F.", der geheimnisvolle Name einer noch geheimnisvolleren Organisation. Die Baudelaires stolpern von einer Gefahr in die nächste bei dem Versuch, die Bedeutung dieses Kürzels zu erfahren. In "Der finstere Fels" nun fährt Handler (sozusagen als 'running gag') noch einmal zahllose falsche Bedeutungen auf (u.a. "falscher Frühling", "feine Fahrt", "funktionaler Feuerschacht", "Fremdwort-Fragetür", "frostige Festlegungen" - ich denke, es reicht), nur um die Frage nach der richtigen Übersetzung schließlich als irrelevant abzutun. Stattdessen zaubert er als würdigen MacGuffin-Nachfolger die ganz und gar belanglose Zuckerdose aus dem Ärmel, deren Bedeutungslosigkeit das Geschehen bis zur Mitte von Band 11 vorantreiben wird. Doch halt, Sie verstehen nur Bahnhof, also - endlich zum Inhalt:
Band 10 und 11 sind in mancherlei Hinsicht von Agentenfilmparodien wie Mini-Max oder James Bond inspiriert. Die meisten der oben erwähnten F.F.-Wörter stammen aus dem Jargon der F.F.-Organisation, die irgendwo auf dem Mount Crux ihr Hauptquartier hatte. Graf Olaf, seine Spießgesellen und die entführte jüngere Baudelaire-Schwester Sunny (2 Jahre alt und meine Lieblingsfigur der Serie) fahren zum Gipfelplateau dieses Berges, um das versteckte Hauptquartier zu suchen. Dies erweist sich jedoch als unnötig, als zwei furchterregende Schurken ebenfalls auf dem Plateau erscheinen: der Mann mit Bart, aber ohne Haare sowie die Frau mit Haaren, aber ohne Bart. Die zwei sind Olaf zuvorgekommen und haben die verlassene Zentrale abgefackelt.
Zur gleichen Zeit sind Violet und Klaus zu Fuß auf dem Weg zum Gipfel, um ihre Schwester zu retten. Dabei stoßen sie auf einen Schwarm "Zuckmücken", eine Gruppe bescheuerter "Schneepfadfinder" - und Quigley Quagmeir, Kartograph und verfrüht für tot erklärter dritter Quagmeir-Drilling. Quigley, Violet und Klaus finden das zerstörte Hauptquartier. Per Dechiffrierung der "frostigen Festlegungen" (d.h. der Lebensmittelvorräte im unversehrten Küchenkühlschrank) erkennen sie, dass ein F.F.-Mitglied (bei dem es sich nach Lemony Snickets Angaben um seine Schwester Kit Snicket handelt) kurz vor der Zerstörung wichtige Geheimnisse, in einer Zuckerdose verstaut, in den "Blutigen Bach" geworfen hat, der vom Gipfel des Mount Crux bis ins Meer fließt.
Was jetzt noch folgt, sind Violets erste Knutscherfahrungen, Sunnys erster ganzer Satz ("Ich bin kein Kleinkind!"), hunderte böse Adler, ein schlüpfriger Steilhang und ein weiterer Cliffhanger. Wenn man bedenkt, dass der Roman über 300 Seiten zählt, ist sein Inhalt ziemlich dünn. In Erinnerung bleibt er höchstens wegen drei bis vier guter Einfälle, z.B. Olafs Beharren darauf, seinen persönlichen Vorteil zum "Gemeinwohl" zu erklären - ein netter kleiner Seitenhieb auf alle Gewinnler dieser Welt. Am Ende verliert Violet herzzerreißenderweise den lieben Quigley aus den Augen und schießt in höchster Not mit ihren Geschwistern den Blutigen Bach hinunter. Das könnte böse enden. Zum Glück wird ihre rasende Fahrt aber in Kapitel 1 von Die grimmige Grotte durch das plötzlich auftauchende U-Boot des Kapitän Widdershin gestoppt.
Reißender Gebirgsbach? Plus U-Boot? Sie merken es schon, hochverehrter Leser, der Schwachsinn regiert auch den 11. - und in so mancher Hinsicht besonders betrüblichen - Band dieser Reihe. Ich verspüre keinerlei Bedürfnis, ausführlich auf die Handlung eines Buches einzugehen, welches nur deshalb existiert, weil
1. unsere Helden irgendwie vom Mount Crux zum haarsträubenden Hotel Denouement gelangen müssen, in dem laut Quigley demnächst ein Geheimtreffen der F.F.-Organisation stattfinden soll;
2. Daniel Handler vertraglich verpflichtet war, dreizehn Bücher zu füllen;
3. genannter Autor James-Bond-Unterwasserszenen cool findet und
4. den Lyriker Edward Guest (womöglich ein Bruder im Geiste von Zeitgenossen wie Peter Hahne oder Peter Bachér) hasst.
Die Baudelaires verbringen mit Kapitän Widdershin und dessen Stieftochter Fiona (ihres Zeichens Mykologin und Klaus’ seelenverwandte Doppelgängerin) die erste Romanhälfte mit der ergebnislosen Suche nach der ominösen Zuckerdose. Anschließend erscheint Graf Olafs von Rudersklaven angetriebenes Octopus-U-Boot und vermiest die geplante Feier zu Violets 15. Geburtstag. Am Ende ist die zu überwindende Distanz überwunden, das Hotel in greifbarer Nähe, und Kit Snicket hat ihren ersten Auftritt.
Bis es dazu kommt, hat der Leser die endlosen dümmlichen Sprachmarotten von Kapitän Widdershin und Graf Olaf erdulden müssen und sich gewiss so manches Mal gefragt, warum er dem deutlichen Hinweis auf Seite 57 nicht die gebotene Beachtung zollte:
"Wenn du darauf bestehst, dieses Buch bis zu Ende zu lesen, wird es für dich schwierig sein, unter Weinkrämpfen zuzugeben, dass du diese Geschichte umsonst gelesen hast und es besser gewesen wäre, langweilige Beschreibungen des Wasserkreislaufs durchzublättern."
Oh, wie wahr! Knapp hinter (dem völlig indiskutablen) Band 5 ist Die grimmige Grotte ein Tiefpunkt der Serie. Snicket fällt nichts Eigenständiges ein. Er füllt lediglich Seiten, und man kann ihm dabei zuschauen, wie er sich mindestens so langweilt wie sein Publikum. Noch stehen zwei Bände aus, aber eigentlich bin ich mir jetzt schon sicher: Die Reihe ist 'as dead as a dodo’. Zum Glück für mich habe ich derzeit Probleme, an Band 13 zu gelangen, weswegen ich noch eine Gnadenfrist habe, bevor ich Das haarsträubende Hotel bzw. Das erstaunlich[ endlos]e Ende rezensieren muss.
Damit Sie diese Nachricht nicht allzu erschüttert, füge ich hier schon einmal das Titelbild von Band 13 ein, das alle Hauptpersonen kurz vor dem finalen Cliffhanger zeigt:
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