Serie: Eine Reihe betrüblicher Ereignisse aka Die schaurige Geschichte von Violet, Sunny und Klaus aka Schauriger Schlamassel (Band 1) Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Violet, Klaus und Sunny Baudelaire leben mit ihren Eltern glücklich und zufrieden in einer großen Villa mit riesiger Bibliothek. Violet ist vierzehn und eine angehende Erfinderin. Ihr Bruder Klaus ist zwölf und fasziniert von der Biologie. Und die kleine Sunny kann gerade gehen und beißt mit Wonne alles, was ihren vier Zähnen zu nahe kommt. Eines Tages machen die drei Baudelaire-Kinder mit der Straßenbahn einen Ausflug zum Strand. Nach einigen Stunden erscheint dort der Bankangestellte Mr. Poe, ein Freund der Familie, und teilt den Kindern unumwunden mit, ihr Elternhaus sei soeben abgebrannt und Vater und Mutter hätten bei dem Unglück den Tod gefunden. Somit sind die Baudelaire-Kinder nunmehr sowohl Waisen als auch ohne Heim. Zwar haben die drei - wie Mr. Poe, als Nachlassverwalter, erklärt - ein beträchtliches Vermögen geerbt, darüber können sie aber erst verfügen, sobald Violet volljährig wird. Bis dahin sollen sie nach dem letzten Willen der Eltern von Verwandten aufgezogen werden.
Violet, Klaus und Sunny verbringen einige Tage im Haushalt der Poes. Dann werden sie ohne große Vorwarnung zu dem einzigen (sehr weitläufigen) Verwandten gebracht, der in der Nähe wohnt: Graf Olaf. Dieser ist innerlich und äußerlich genauso verkommen wie das Gemäuer, in dem er haust [siehe Titelbild - Psycho lässt grüßen]. Als er erfährt, dass er nicht so einfach an das Geld seiner Schutzbefohlenen herankommt, lässt er sofort die Maske des Biedermannes fallen und macht den Kindern das Leben zur Hölle. Einziger Lichtblick für sie im traurigen Alltag ist Olafs nette Nachbarin, die Richterin Strauss. Leider ist diese, was den Charakter des Grafen anbetrifft, genauso mit Blindheit geschlagen wie der (gleichgültige) Mr. Poe. Und so sind die Baudelaires ganz auf sich gestellt, als sie erkennen, dass ihr Onkel alles daran setzen wird, ihnen ihr Geld zu stehlen, und dass, sobald er es einmal hat, ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert sein wird.
(Copyright: UIP)
Der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Handler hat unter dem Pseudonym Lemony Snicket zwischen 1999 und 2007 die dreizehnbändige Kinderbuchreihe Eine Reihe betrüblicher Ereignisse verfasst und von den Büchern bisher über 55 Millionen Exemplare verkauft [Stand: Mai 2007]. Die ersten drei Bände wurden von Hollywood verfilmt und kamen 2005 als Big-Budget-Produktion unter dem Titel Lemony Snicket - Rätselhafte Ereignisse in unsere Kinos. Wichtige Rollen in diesem Streifen spielten vor allem Jim Carrey (als Graf Olaf) sowie bekannte Namen wie Meryl Streep, Billy Connolly, Catherine O'Hara (als Richterin Strauss) und Jude Law (als der Erzähler Lemony Snicket).
Millionen Kinder weltweit scheinen sich von Handlers Büchern angesprochen zu fühlen - wofür es sicher mehr als nur einen Grund gibt:
Die Serie spielt in einer Fantasy-(Alp-)Traumwelt, die mit der Erde, wie wir sie kennen, nur einige äußerliche Versatzstücke gemein hat. (Der Film wurde konsequenterweise fast vollständig im Studio gedreht und setzt die daraus resultierende Atmosphäre der Unwirklichkeit bewusst als Stilmittel ein.) Die Baudelaire-Kinder leben "in einer dreckigen und geschäftigen Stadt" an der sogenannten "Kahlen Küste". In ihrer Welt existieren Computer, Kreditkarten und Walkie-Talkies neben Kutschen als Fortbewegungsmitteln, Zylindern als Kleidungsstücken und Menschen, die das Wort "Automobil" benutzen. Das Traumhafte wird noch dadurch verstärkt, dass die Charaktere sich durchweg nicht so verhalten, wie man es in der Realität erwarten würde: Die Bösen sind richtig böse, die Kinder unglaublich klug, und die Notlage, in die Letztere geraten, spitzt sich so schnell und unlogisch zu, wie es nur in einem Traum (oder Märchen) geschehen kann. Von einem Tag auf den anderen wird Graf Olaf zum Vormund der Geschwister. Kein Sozialamt prüft seine Wohnsituation bzw. seinen Lebenswandel. Obwohl die Kinder ein Riesenvermögen geerbt haben, kommen sie an keinen Cent des Geldes heran. Außerdem gibt es offenbar kein Gesetz, das die Heirat eines Erwachsenen mit einer Vierzehnjährigen untersagt.
Daniel Handler hat für seine Romane die Figur des Lemony Snicket erfunden, der zwar nicht persönlich in der Geschichte auftritt, diese aber ständig als Erzähler ironisch kommentiert und den Leser direkt anspricht. Durch diesen Trick umschmeichelt der Autor sein junges Publikum und gibt ihm zu verstehen: "Ich schreibe hier Meta-Fiction für Fortgeschrittene. Wir wissen ja alle, wie der Hase läuft. Euch brauche ich nichts vorzumachen." Schon im Klappentext lockt er scheinheilig:
"Liebe Leserin, lieber Leser, zu meinem Bedauern muss ich dich darauf hinweisen, dass das Buch, das du in Händen hältst, äußerst unerfreulich ist. Es erzählt eine traurige Geschichte von drei höchst unglücklichen Kindern. (...) Es ist meine traurige Pflicht, diese unerfreulichen Vorkommnisse niederzuschreiben, aber niemand hindert dich daran, das Buch unverzüglich wegzulegen und stattdessen etwas Erfreuliches zu lesen, wenn du so etwas lieber magst."
Handler erwähnt mehrmals (mit einem verbalen Augenzwinkern), dass Kinderbücher natürlich gewöhnlich gut ausgehen und sich zu guter Letzt alles in Friede, Freude, Eierkuchen auflöst. Nicht so hier. Dies sei ein Buch für Kenner, in dem mit gängigen Konventionen gebrochen werde! (Im zweiten Band der Reihe - ups, ein kleiner Vorgriff, mehr dazu bald - erläutert Snicket sogar detailliert die Funktionsweise von "dramatischer Ironie".) Dazu gibt es einige Exkurse zur Alltagspsychologie, diverse Übersetzungen von Fremdwörtern sowie Namen, die, wenn Kinder sie nachschlagen, womöglich deren Allgemeinwissen erweitern.
Auf den erwachsenen Leser wirkt die Mischung, die Handler serviert, vielleicht allzu clever (und berechnend?). Des Autors Lust am Düsteren lässt sich sicher rechtfertigen: Selbst Grimms Märchen funktionieren schließlich nach einem ähnlichen Prinzip. Auch kann es nicht schaden, zu erfahren, dass Edgar Allan Poe ein Ahnherr der Horror-Literatur ist und Charles Baudelaire einen Gedichtband mit dem Titel Die Blumen des Bösen verfasst hat. Welche nützliche Erkenntnis zieht ein Kind jedoch aus der Information, dass ein gewisser Klaus von Bülow vor Jahren vor einem US-Gericht gestanden hat unter der Anklage, seine Frau Sunny vergiftet zu haben? (Die Dame liegt noch heute im Koma.) Wie dem auch sei: Prinzipiell habe ich sehr viel für surreale Fantasy-Geschichten übrig und werde schon deshalb am Ball bleiben. Allzu schwierig dürfte das nicht werden - die schaurigen Geschichten von Violet, Klaus und Sunny sind allesamt kurz und knapp und dank Lemony Snickets erzählerischem Plauderton innerhalb weniger Stunden durchgelesen.