Titel: Kult Eine Besprechung / Rezension von Karsten Kruschel |
Ukraine, Land der Dämonen: Als man dem Biologiestudenten Jurko Banzai wegen seiner guten Leistungen im Studium eine Aushilfsstelle an einer Schule anbietet, nimmt er sie an. Seine verschiedenen Experimente mit sogenannten bewußtseinserweiternden Drogen, die er sich selbst aus den (meistens falschen) Pilzen herstellte, haben ihn bis dato nicht besonders weit gebracht, zählt man den Rand des Todes nicht dazu. Man könnte auch sagen, daß seine Versuche, sich zu vergiften, allesamt fehlschlugen.
Banzai geht in das hoffnungslos zurückgebliebenes Kaff Midni Buky, wo er eine Nachbarin hat, die “häßlich wie der Atomkrieg” ist. Er unterrichtet dort Jugendliche an einer Schule, die wie die aller Süßlichkeit entkleidete Version aus einer amerikanischen Highschool-Komödie wirkt. Die Lehrer sind alle völlig durchgeknallt, rauchen Gras, meditieren über Beatles-Schallplattenhüllen und schreiben furchtbar schlechte Gedichte. “Der Lehrkörper bestand also aus lauter schrägen Vögeln. Das war aber war nichts gegen die unseligen, mit der ganzen Welt hadernden Mißgeburten, die man hier aus irgendeinem Grund zärtlich Schüler nannte.” Es gibt verschiedene Gruppierungen von jugendlicher Subkultur, die einander spinnefeind sind, also alles ganz normal. Es gibt Freaks, Formale, Synthetiker und Hopniks, die dem Leser so lange auseinanderklassifiziert werden, bis ihm der Kopf schwirrt, und ungeachtet eines riesigen Funklochs allesamt mit völlig unnützen Mobiltelefonen herumlaufen. Jurko Banzai hält diesen Schülern hemmungslos spinnerte Reden, die wie selbstverständlich für bare Münze genommen werden, verliebt sich prompt in eine Schülerin und gerät immer tiefer in immer merkwürdigere Ereignisse.
Es stimmt einiges nicht in diesem gottverlassenen Kaff: Die Mächte der Finsternis haben nämlich herausgefunden, daß genau hier die nächste Möglichkeit sich anbahnt, die Abgründe der Verbannung zu verlassen und in unser Universum hinüberzuwechseln. Am Ende gelingt ihnen dieses Vorhaben zwar nicht, die weitaus meisten handelnden Personen des Romans sind allerdings tot. Und dennoch endet das Buch irgendwie positiv...
Dieser Roman beginnt als ironisch-hoffnungslose Schulgeschichte über einen allzu phantasiebegabten jungen Lehrer, der in die Provinz geht – und zwar in die tiefste nur vorstellbare Provinz irgendwo in den gottverlassenen Weiten der Ukraine. Das Buch endet in einem Kataklysmus, der weder die Hauptpersonen noch ihre Weltbilder am Leben läßt. Man hatte ja gedacht, Autoren wie King, Straub und ihr gemeinsamer Vorfahr H.P. Lovecraft hätten zum Themenkreis der Hölle, ihrer Tore und den namenlosen Schrecken, die dahinter lauern, schon alles zusammenphantasiert, was man zusammenphantasieren könnte. Aber weit gefehlt. Der bekennende Lovecraft-Fan Ljubko Deresch transportiert das alles erdrückende Gefühl der Bedrohung ebenso in die moderne Ukraine wie die kosmische Dimension, der den Schrecknissen des großen Vorbilds anhaftet.
Allerdings ist Ljubko Deresch kein Lovecraft-Epigone (oder sagen wir, nicht nur. Er selbst hätte vermutlich mit diesem Titel keine Probleme). Es handelt sich um einen einundzwanzigjährigen jungen Mann, der dieses erstaunliche Buch mit achtzehn veröffentlichte. Kein Wunder, daß man in der Ukraine die Geschichte von dem romaneschreibenden Teen zunächst ins Reich der Fabel verwies und herumrätselte, welcher der gerade angesagten Autoren des Landes sich hinter “Kult” verbergen mochte. Die meisten tippten auf Andruchowytsch.
Tatsächlich haben beide Autoren gemeinsam, daß sie so etwas wie eine speziell ukrainische Variante jenes magischen Realismus erfunden haben, der ursprünglich aus Lateinamerika stammt. Das Phantastische kommt hier wie selbstverständlich aus Welten jenseits der unseren zu uns; Menschen brauchen keine komplizierten Initiationsriten, um mit den Wesen jenseits unserer Vorstellungskraft zu sprechen; das geheimnisvolle Fremde bleibt unbegreiflich und mächtig; und die geheimnisvollen Fremden finden ihrerseits nichts daran, sich kräftig in unser Leben einzumischen. Als das gefährlichste Lebewesen erweist sich ein Pförtner, der esoterische Fachbücher liest.
Daß gerade in der Ukraine so etwas geschrieben wird, dürfte kein Zufall sein. Bis vor kurzem noch war es dort nicht ganz ungefährlich, unangepaßt, originell und aufmüpfig zu sein. Ob die große Befreiung, die die orangene Revolution verheißt, wirklich stattgefunden hat und/oder von Dauer sein kann, muß sich erst noch erweisen. Bis dahin kann diese spezielle Art, mittels phantastischer Umwege die Wirklichkeit zu beschreiben, noch manche merkwürdige Blüte wie diese hervorbringen. Ljubko Deresch spielt mit Fußnoten, Literaturverweisen und kulturellen Querschlägern, so daß alles ironisiert wird, als wäre es ein Film, in den man beim Zappen mit der Fernbedienung hineingeraten wäre und der die Furcht einer ganzen Generation in sinnverwirrenden Bilder zusammenfaßt.
Der Verlag verpackt diese irritierende Geschichte in einen revolutionsorangefarbenen Umschlag, der mit großen Jugendstil-Lettern über einem isochromisch verfremdeten Porträt des (wirklich sehr) jugendlichen Verfassers um Leser wirbt. Vermutlich greift so tatsächlich der eine oder andere Mensch zu dem Roman, der etwas vom Geist von Pink Floyd und H.P. Lovecraft auf der Rückseite gelesen hat und überrascht sein wird, was ihm geboten wird. Pink Floyd werden im Buch direkt gar nicht erwähnt, und daß der Pfeifer an den Toren der Morgenröte, der am Schluß mit dem scheußlichen Wurm kämpft, seinen Namen dem ersten Pink-Floyd-Album verdankt, dürften die wenigsten Leser wissen. Dafür wimmelt es nur so von Verweisen auf Hendrix, The Doors, Van Der Graaf Generator, Yes, Led Zeppelin und King Crimson. Wenn heute ein Achtzehnjähriger solche Musik hört, ist der normale Lauf der Dinge durcheinandergeraten; in dem Alter beginnen die meisten erst langsam den Unterschied zwischen richtiger Musik und der Produzentenscheiße auf den “Musik”sendern zu begreifen.
Dementsprechend ist dieser Roman frühreif und auf eine herzlich erfrischende Weise kindisch, jedoch nicht im Geringsten kindlich. Kindern, Schwangeren und Herzpatienten wird denn auch gleich zu Beginn abgeraten, diesen Roman zu lesen. Alle anderen dürften ihren Spaß haben.