Titel: Kornwolf Eine Besprechung / Rezension von Karsten Kruschel |
Zu diesem Buch gibt’s vorweg eine schlechte Nachricht: Es ist ein Werwolf-Roman. Die gute Nachricht hinterdrein: Mit den weichgespülten Vampir-gegen-Werwolf-Papierklötzen, die in Form von Biss-Folgen die Buchregale belagern, hat dieser Roman absolut nichts gemeinsam. Er ist hart, direkt, stellenweise brutal und erfrischend eigenständig (was er tatsächlich mit Simon Clarks „Vampyrrhic“ gemeinsam hat, einige Seiten zuvor nachzulesen).
Gerade einmal dreißig Jahre alt und schon eine gescheiterte Existenz – so kommt Owen in die Stadt seiner Heimat zurück, die er nie wieder betreten wollte. Bei dieser Stadt namens Stepford handelt es sich um eine Hochburg der Amischen, jener vor einigen Hundert Jahren ausgewanderten wiedertäuferischen Glaubensgemeinschaft, die in Europa vor der physischen Ausrottung stand und deswegen in die Neue Welt floh.
Und dort unter sich blieb. Und sogar heute noch nur wenige, immer wieder überlieferte Familiennnamen kennt: Borntrager und Stolzfuss beispielsweise. Kann es ohne Folgen bleiben, wenn eine Bevölkerungsgruppe von einigen zehntausend Menschen mehrere hundert Jahre komplett unter sich bleibt? Dazu später...
Gern kommt Owen nicht zurück, aber er hat kaum eine Wahl, nachdem er aus jeder Anstellung als Reporter nach kurzer Zeit mit Schmackes rausgeschmissen worden ist. Nun schlägt er sich in Stepford durch – im wahrsten Sinn des Wortes, er jobbt als Zeitungsschreiberling und lässt sich zum Boxer ausbilden. Und da gerade seltsame Ereignisse die Gegend erschüttern, hat er eine Menge zu recherchieren und zu schreiben. Ein Monster streift durch die Gegend, macht Sachen kaputt und stinkt und randaliert und ist zu alldem offenbar auch noch mit übernatürlichen Kräften ausgestattet.
Gibt es Werwölfe?
Braucht es Werwölfe, wenn es Menschen gibt?
Owen gerät in einen Mahlstrom aus Ereignissen, Informationen und alten Dokumenten, der ihn atemlos hinterdrein tappen lässt, während sich die ganze Gegend in einen merkwürdigen Ausnahmezustand hineinsteigert. Da sind Hinweise, welcher bedauernswerte junge Mann sich da in gewissen, von den Phasen des Mondes vorgegebenen Zeitabständen in etwas ... Seltsames verwandelt. Oder seltsame Anwandlungen erleidet. Ephraim – so lautet der Name des Ärmsten – durchschaut selbst nicht, was genau da mit ihm geschieht. Und da findet Owen Hinweise, dass es solche Vorfälle schon früher gegeben hat, damals in den Wirren des dreißigjährigen Krieges, ehe sich die Amischen zur Auswanderung gezwungen sahen. Hinweise auf Geschwisterliebe, die sich unheilvoll vermischen mit Erinnerungen an undenkbare inzestuöse Vorfälle... Tristan Egolf verstreut seine Hinweise mit Raffinesse. Man kann den Roman zum einen als Werwolfgeschichte lesen, samt historischer Ableitung aus Europas finsteren Zeiten, oder zum anderen als Geschichte einer Mutation, die nur dann zutage tritt, wenn Verwandte miteinander Leben zeugen (und in so abgekapselten Gemeinschaften sind ja alle irgendwie miteinander verwandt).
Egolf lässt das im Ungewissen, weil es ihn nicht wirklich interessiert. Tatsächlich will er beleuchten, wie angesichts des – eingebildeten oder realen – Ungeheuers eine Gesellschaft selbst zum Ungeheuer wird. Oder das Ungeheuerliche, das schon immer da war, plötzlich an die Oberfläche dringen lässt. Das wirkt bei einer in sich ruhenden, verschlossenen Gemeinschaft wie den Amish People natürlich besonders erschreckend. Dabei denunziert der Autor hier keine Kirche, so seltsam sie für Außenstehende auch sein mag. Er bündelt seinen Blick durch die Regeln der Amisch und ihre Eigenheiten wie durch ein Brennglas. „Rumspringa“ heißt bei ihnen eine Zeit des Ungebundenseins, ehe man sich brav verheiraten lässt. Da schaut man ein Jahr lang weg, das ist nicht so wichtig, was die jungen Leute da treiben – Hauptsache, sie treten hinterher brav der Alten Ordnung bei. Da müssen die jungen Leute in einem Jahr allen Unfug machen, den die anderen über Jahrzehnte verteilen können. Beispielsweise brutalsten Death Metal hören, saufen und Körperteile in Körperöffnungen stecken.
Oder der Umwelt die Existenz eines Werwolfs vortäuschen.
Und das ist dann schon die dritte Lesart des Kornwolfs.
Das alles verzahnt sich miteinander, mit Owens Geschichte und mit Ephraim, der erratisch auftaucht und verschwindet, eine niemals fassbare Hauptfigur.
Bis zum phantasmagorischen Schluss nicht.
Ephraim selbst kriegt nie heraus, ob seine Stimmungschwankungen und nächtlichen Eskapaden nun Symptome für ein Werwolfdasein sind oder einfach die üblichen Verwerfungen der Adoleszenz.
Tristan Egolf tritt den Leser so oft in die Kniekehle, dass der dankbar wird, wenn er wieder mal an einer stupenden Formulierung fast zusammenbrechen darf – etwa wenn eine Pause in einem Gespräch mit der lakonischen Bemerkung gefüllt wird, die Termiten zerfräßen gerade die Wand. Oder wenn unausgeprochen, aber jederzeit präsent ein unerklärter Krieg das Handeln der Personen bestimmt; ein Kampf der Lebensweisen, zwischen denen sich die Teenager entscheiden müssen. Zwischen dem kontemplativen, gottesfürchtigen und streng geregelten Leben der Alten Ordnung und dem Death-Metal-Kampfsaufen, das die amischen Jugendlichen bei „den Englischen“ kennenlernen, ist ein Kompromiß undenkbar.
Frank Heibert hatte es als Übersetzer nicht nur mit einer Quellsprache und einer Zielsprache zu tun, sondern auch noch mit einem Dritten, Dazwischen- oder Danebenliegenden: mit Daitsch. Das ist jeder altertümlich klingende Dialekt, den die Amischen bei ihrer Emigration nach Amerika aus der deutschen Heimat mitnahmen und der sich seither ganz eigenständig entwickelt hat – und der auch ein sprachlicher Schutzraum gegen die Umgebung war (heute eher als Pennsylvania-Deutsch bekannt). Nicht-amische Amerikaner werden, durchaus abschätzig, die „Englischen“ genannt. Die daitschen Textstellen – sowieso schon vom Übersetzer bearbeitet – werden im Anhang in modernes, verständliches Deutsch übertragen. So ohne weiteres würde sich auch nicht erschließen, dass „Wass hat gehappent?“ einfach die Nachfrage darstellt, was geschehen sei, und an Worten wie „unscheut“ scheitert der Leser, bis er nachliest, dass der Begriff “verrückt“ bedeutet.
Leider sind dem englischen Text Anmerkungen versagt geblieben. Der Name der Gegend beispielsweise – Blue Ball – sorgt für mehrere sexuell anzügliche Bemerkungen, die unverständlich bleiben, wenn der Leser nicht weiß, dass blue balls zu haben im US-Amerikanischen so was wie notgeil bedeutet (oder dicke Eier zu haben, um im Slang zu bleiben). Von solchen Details abgesehen (vielleicht habe ich ja andere derartige Fehlstellen gar nicht bemerkt), ist die Übersetzung sprachgewaltig. Die ersten anderthalb Seiten beispielsweise lesen sich wie ein expressionistisches Gedicht, und man sollte bei der Lektüre des Romans immer mal wieder zu diesen ersten, kursiv gedruckten Zeilen zurückkehren. Sie verändern sich nämlich in ihrer Bedeutung, je nachdem, wie weit man bereits gekommen ist.
Die von Frank Heibert im Nachwort angedeutete Fortsetzung dieses Buches – Egolf selbst hatte mal von fünf Werwolf-Bücher gesprochen – wird niemals erscheinen: Kurz nach der Niederschrift von „Kornwolf“ hat sich der Autor umgebracht. So ganz vollendet war das Buch wohl noch nicht, denn manche Enden bleiben unverknüpft – etwa Owens boxerische Karriere, das seltsame Benehmen seines Boxtrainers und die komplizierte Beziehung zwischen den beiden. Überhaupt verschwindet Owen mehr und mehr aus der Geschichte, je mehr sie sich dem Finale des Kornwolfes nähert. Das schmälert nichts am erzählerischen Elan und der Wortwucht, die Egolf entfaltet.
Eine zusätzliche Dimension kommt dem Buch zu, wenn man von der – selbst romanreifen – Biografie seines Verfassers Kenntnis nimmt. Tristan Egolfs leiblicher Vater war ein politischer Aktivist im eher rechten politischen Spektrum, benannte seine Kinder nach Wagner-Opern und starb unter nicht ganz geklärten Umständen an Drogen. Tristan Egolf selbst war Sänger einer Punkrockband und tingelte mit zahllosen Jobs durch die Welt. Er war auch einer der Smoketown Six, die sich aus Protest gegen die Greuel von Abu Ghraib bei einem Besuch von US-Präsident Bush nackt auszogen und eine menschliche Pyramide bildeten (und prompt verhaftet wurden). Egolfs erster Roman (in Deutschland „Monument für John Kaltenbrunner“) wurde von über siebzig amerikanischen Verlagshäusern abgelehnt (was für eine Ausdauer) und erschien dann bei Gallimard in Paris – mit weltweitem Erfolg.
Mit dem Kornwolf wirft Tristan Egolf uns aus dem Grab eine Art buchgewordenen, phantastisch-bizarren Punksong über Werwölfe und die unerhörte Phantastik menschlicher Abgründe zu, der geeignet wäre, die Leser von „Völkerromanen“ tief zu verschrecken. Buh!