Serie/Zyklus: : ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
"Live by the (harmless untruths) that make you brave and kind and healthy and happy." (S. 6)
"Anyone unable to understand how a useful religion can be founded on lies will not understand this book either." (S. 9)
Kurt Vonneguts vierter Roman aus dem Jahre 1963 erzählt mehrere Geschichten gleichzeitig. Eine von ihnen führt letztendlich zur Auslöschung fast allen menschlichen Lebens: In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg macht sich der amerikanische Physiker Felix Hoenikker Gedanken darüber, wie sich verhindern lässt, dass Militärfahrzeuge in schlammigem Terrain steckenbleiben. Seine Lösung für das Problem ist `Ice-nine’, eine Art Eis, das erst bei über 40 ° Celsius schmilzt. Leider hat Ice-nine auch die Eigenschaft, jedes normale Wasser, mit dem es in Kontakt kommt, blitzschnell zu infizieren und umzuwandeln. So geschieht es, dass Hoenikker bei einem Experiment in seiner eigenen Küche einen Tropfen Ice-nine berührt und stirbt. Als seine drei Kinder Angela, Franklin und Newton von einem Spaziergang nach Hause zurückkehren, finden sie ihren Vater tot vor. Anstatt seine Erfindung sofort zu vernichten, teilen sie sie unter sich auf. In den folgenden Jahren wird Angela und Newton ihr Wissen vom amerikanischen bzw. sowjetischen Geheimdienst abgeluchst. Franklin verkauft sein Ice-nine an den karibischen Diktator `Papa’ Monzano und wird dafür ein operettenhaft ausstaffierter General auf dessen Insel San Lorenzo. Dort ereignet sich schließlich bei einer Flugschau der Unfall, der zum Weltuntergang führt.
Über niemandes Privatleben erfährt man in "Cat’s Cradle" so viel wie das Felix Hoenikkers, aber eigentlich bleibt Hoenikker immer nur der von seinen Erfindungen besessene `mad scientist’, dem andere Menschen vollkommen egal sind. Hoenikker ist z. B. einer der Väter der Atombombe, verschwendet jedoch keinen Gedanken an die moralischen Implikationen seines Tuns. Seine sechzehnjährige Tochter nimmt er von der Highschool, weil es für ihn am bequemsten ist, wenn sie ihm den Haushalt führt. Ohne Zuwendung durch ihren Vater aufgewachsen (die Mutter starb bei Newtons Geburt), flüchten sich auch die Kinder in einsame Beschäftigungen: Angela wird zur Klarinetten-Virtuosin, Franklin wird zum egozentrischen Experten für Modelleisenbahnen und Newton, das kleinwüchsige Nesthäkchen, malt abstrakte Bilder.
Aus den letzten Sätzen könnte man schließen, dass es in "Cat’s Cradle" um die psychologische Darstellung einer kaputten Familie geht, aber das wäre ein Fehlschluss. Die 174 Textseiten sind in 127 sehr knappe Kapitel unterteilt, die alle Zeugnis geben vom schwarzen Humor des Erzählers und häufig eine skurrile Situation beschreiben bzw. mit einem kleinen Gag enden. Diese Erzählhaltung lässt keine echte Identifikation mit den handelnden Charakteren zu - nicht einmal mit der Figur des Ich-Erzählers John, der als einer der wenigen Menschen, die die Freisetzung von Ice-nine (vorläufig) überleben, das Geschehen rückblickend (und schon deshalb mit einiger Distanz) beschreibt. Zwar erwähnt das Buch auch Details aus Johns Vergangenheit, doch ist seine Hauptfunktion in dem Roman - ähnlich wie bei Herman Melvilles "Moby Dick" - die des Beobachters, der eine Katastrophe überlebt, an der er nicht ursächlich beteiligt war. ("Cat’s Cradle" beginnt mit dem Satz "Call me Jonah" - "Moby Dick" mit den Worten "Call me Ishmael". Daneben verweist der Name `Jonah’ sicher auch auf den Propheten wider Willen aus dem Alten Testament.) Andere Nebencharaktere werden oft nur durch ihren Namen charakterisiert: Papa Monzano ist offenbar von Haitis Ex-Diktator Papa Doc Duvalier inspiriert; die Sekretärin eines Physikers heißt `Miss Faust’; ein Mann, der Johns Apartment auf den Kopf stellt, heißt Sherman Krebbs (Sherman hieß auch der General, der gegen Ende des Bürgerkriegs die Südstaaten verheerte). Die Liste ließe sich fortsetzen. Und es gibt noch das Abziehbild des ignoranten Amerikaners im Ausland - Pop und Mom Crosby. Pop möchte auf San Lorenzo in einem Sweat-shop Fahrräder produzieren lassen und ist überzeugt, dass der amerikanische Kapitalismus die Antwort auf alle Fragen bietet.
Alles, was bisher beschrieben wurde, ist eigentlich nur die notwendige Staffage für das, worum es Vonnegut wirklich geht. In seinem Roman vergleicht Vonnegut zwei Glaubenssysteme, denen sich Menschen zuwenden bei ihrer Suche nach einem höheren Sinn im Leben: die Wissenschaft und die Religion. "Cat’s Cradle" spielt teilweise in Ilium, N.Y., dem Ort, an dem Felix Hoenikker jahrzehntelang arbeitete, und teilweise auf der Antilleninsel San Lorenzo. In Ilium recherchiert John für ein Buch über den Atombombenabwurf von Hiroshima (das er nie schreiben wird). John besichtigt die Fabrik, in der Hoenikker zu Lebzeiten geforscht hatte, und interviewt dessen früheren Mitarbeiter Asa Breed, der in höchstem Pathos das Ideal der `reinen’ Wissenschaft preist, welche sich allein der Erforschung des Unbekannten verpflichtet fühlt. Vonnegut lehnt diesen Glauben rundweg ab - das Beispiel Hoenikkers zeigt, dass Wissenschaft ohne Moral letztlich das Überleben der Menschheit gefährdet. Später reist John nach San Lorenzo und findet eine Insel vor, deren Einwohner bettelarm, und doch relativ zufrieden sind. Die Armut ist darauf zurückzuführen, dass sich auf den kargen Böden der Insel kaum etwas anbauen lässt; die Zufriedenheit ist dem Bokononismus zu verdanken, einer Religion, die sich zwei Amerikaner ausdachten, nachdem sie 1922 auf der Insel gestrandet waren. Der Bokononismus ist eine Glaubensrichtung, die weiß, dass sie nichts weiß. Für Vonnegut wie seinen Religionsstifter Bokonon (alias Lionel Boyd Johnson) steht fest, dass dem Menschen keine metaphysischen Offenbarungen zugänglich sind. Wenn er also ein zufriedenes Leben führen will, muss er sich Bedeutungssysteme selbst erfinden. Johnson und sein Landsmann McCabe vertrieben 1923 sowohl einen amerikanischen Bananenkonzern von der Insel (der fast freiwillig ging, da er eh rote Zahlen schrieb) als auch die katholische Kirche (mit ihrer Dogmatik der Schuld und Sünde). Als sie dann merkten, dass sie es nicht schaffen würden, die wirtschaftliche Lage der Menschen zu ändern, ersannen sie eine Rollenteilung: McCabe wurde zum Diktator, Johnson zu Religionsstifter. In einem seiner Calypsos (aus denen `The Book of Bokonon’ großenteils besteht) schreibt Bokonon:
"I wanted all things / To seem to make some sense, / So we all could be happy, yes, / Instead of tense. And I made up lies / So that they all fit nice, / And I made this sad world / A par-a-dise." (S. 82f)
Der Bokononismus ist eine Religion des Seid-nett-zu-einander-und-habt-ein-schönes-Leben, und er gewann auf San Lorenzo gleich dadurch enorm an Attraktivität, dass McCabe ihn verbot und Bokonon zur Fahndung ausschrieb, natürlich ohne je ernsthaft nach ihm zu suchen. Bokonons Calypsos sowie Erklärungen seiner `religiösen’ Terminologie durchziehen das Buch. Sie geben offen zu, dass der Bokononismus an den Haaren herbeigezogen ist, aber wen muss das stören, wenn man sich dank seiner besser fühlt? In einer Szene des Romans malt der Nihilist Newton Hoenikker ein hässliches schwarzes Bild und nennt es `Katzenwiege’. Eine Katzenwiege ist eines der Muster, die entstehen, wenn man die Enden eines Bandes mit einander verknotet, das Band um die verschiedenen Finger seiner zwei Hände wickelt und lange genug damit herumspielt. Für Newton hat dieses Muster (und entsprechend die Welt) keinerlei Bedeutung ("No damn cat, and no damn cradle."; S. 105), aber ist der Name `Katzenwiege’ nicht viel netter als etwa `Muster 23’?
Was für die Katzenwiege gilt, kann auch fürs Romaneschreiben nicht falsch sein, findet Kurt Vonnegut, und bietet Gags am laufenden Band. Das ist oft sehr unterhaltend und nützt sich als Effekt streckenweise sehr ab. Trotzdem kann man keinem Buch wirklich böse sein, das Sätze wie den folgenden enthält: "Maturity (...) is a bitter disappointment for which no remedy exists, unless laughter can be said to remedy anything." (S.125)