|
Der britische Schriftsteller Paul Hoffman |
Paul Hoffman ist ein neuer Autor, dessen Erstlingswerk in der Phantastik fast gleichzeitig in zwanzig verschiedenen Ländern erscheint. Das ist für einen Autoren ein großes Lob, denn wer kann schon von sich sagen, noch nichts in der Phantastik veröffentlicht zu haben und gleich mit dem ersten Buch diesen Verkaufserfolg bei den Verlagseinkäufern zu haben. Paul Hoffman studierte Anglistik und arbeitete danach als Buchmacher, Kurierfahrer, Lehrer und Gutachter für den British Board of Film. Als Drehbuchautor arbeitete er u. a. mit Ford Coppola zusammen. Teile seines ersten Romans, The Wisdom of Crocodiles, wurden mit Jude Law verfilmt. Sein Roman Die linke Hand Gottes erschien am 24.05.2010. Ich hatte Gelegenheit, ein E-mail-Interview mit Paul Hoffman zu führen.
(Paul Hoffmans Antworten übersetzte Rainer Skupsch.)
Erik Schreiber
Was machst Du, wenn du nicht liest oder schreibst oder spazieren gehst?
Paul Hoffman
Ich verbringe viel Zeit mit Nachdenken - das müssen keine tief schürfenden Dinge sein, eher eine Mischung aus Grübeln, Herumspinnen, Analysieren und Tagträumerei.
Erik Schreiber
Seit wann schreibst Du?
Paul Hoffman
Ich begann eher spät, mit Mitte dreißig. Der Prozess des Schreibens begeisterte mich dabei von Anfang an. Ich entdeckte, dass er die Welt zu einem anderen Ort werden ließ.
Erik Schreiber
Kann Literatur die Welt verändern?
Paul Hoffman
Ich muss gestehen, ja. Ganz sicher veränderte sie mein Leben radikal. Das Vorbild für The Sanctuary in The Left Hand of God ist ein katholisches Internat, in das ich mit zehn eintrat. Jemand bezeichnete solche Einrichtungen einmal scharfsinnig als Gottes Konzentrationslager. Das Leben dort war wie in einem Gefängnis, ganz ähnlich wie es in dem Buch beschrieben wird, jedoch mit einer Ausnahme: Die Priester durften uns nicht umbringen. Ich entkam nach sieben Jahren, ohne irgendeinen Schulabschluss. Die Priester hatten die Schule geschlossen, weil die örtlichen Behörden von ihnen gefordert hatten, auch Mädchen zu unterrichten - eine Vorstellung, die ihnen völlig unerträglich erschienen war. Die neue Schule, die auf diesen Ruinen entstand, besaß eine wirklich großartige Lehrerin, die sich weigerte, sich von meiner ausgeprägten Feindseligkeit abschrecken zu lassen. Innerhalb von sechs Monaten verwandelte sie meine Einstellung allem gegenüber, indem sie meine Leidenschaft fürs Lesen förderte. Dann schlug sie vor, ich solle mich der Aufnahmeprüfung der Universität in Oxford unterziehen, obwohl keine andere Universität mich angesichts meiner bisherigen schulischen Leistungen auch nur zu einem Vorstellungsgespräch einladen wollte. Zum Glück interessierte sich Oxford nicht für Leistungen der Vergangenheit. Für sie zählte nur, welche Fähigkeit man in ihren Prüfungen bewies. Ich wurde angenommen. Die Literatur änderte nicht nur von Grund auf meine Sicht der Welt, sondern auch in einem ganz praktischen Sinne meine Aussichten im Leben.
Erik Schreiber
Welche Bedeutung hat Literatur für Dich?
Paul Hoffman
Sie ist eine Art Spiel, nicht ein Wissensbereich. Sie ermöglicht dir, den Beschränkungen deiner eigenen Persönlichkeit zu entfliehen und eine Traumwelt zu betreten, die die reale Welt widerspiegelt, ohne real zu sein. In diesem Zustand des Träumens kannst du neben so unterschiedlichen Personen wie Anna Karenina, Itchy und Scratchy, Micky Maus und Achilles stehen. Gleichzeitig bist du nicht zu einem tragischen Tod verdammt wie die Erste und der Letzte auf dieser Liste. In der griechischen Mythologie kann sich Perseus nur deshalb der entsetzlichsten Sache auf Erden stellen - der Gorgo -, weil er seinen Schild als Spiegel benutzt (dabei muss man sich vor Augen führen, dass die Spiegel der Griechen damals keine klaren Abbilder schufen, wie wir sie heute gewohnt sind). Die Literatur ist unser Zerrspiegel.
Erik Schreiber
In Deutschland erschien am 24. Mai 2010 Dein Roman The Left Hand of God. Ist es Dein erster Roman?
Paul Hoffman
In England hat man mir vorgeworfen, meine ersten zwei Romane zu verraten mit The Left Hand of God - einem gewöhnlichen Fantasywerk. Mein erster Roman war The Wisdom of Crocodiles, und ich schrieb dreizehn Jahre an ihm. Er besteht aus acht sich überschneidenden Geschichten, und die meisten von ihnen handeln von Leuten mittleren Alters mit komplizierten Berufen: einem Bodenkundler, der den schiefen Turm von Pisa vor dem Umfallen zu bewahren versucht, dem Chef einer Anti-Terror-Einheit, einem Pornographen mit sieben Pornoläden, einem Detektiv für Versicherungsbetrugsfälle. Das Buch erschien 1999 und sagte sowohl das Wiedererstarken des internationalen Terrorismus als auch - in allen Einzelheiten - den Finanzcrash von 2008 vorher. Mein zweiter Roman ist eine schwarze Komödie auf der Grundlage meiner zehnjährigen Arbeit für das British Board of Film Classification.
Erik Schreiber
Worum geht es in Die linke Hand Gottes?
Paul Hoffman
„Mit 14 ist das Schlimmste, was dir je zustoßen wird, wahrscheinlich schon geschehen.“
Thomas Cale wird in den Alptraum jedes Kindes hineingeboren: niemand, der ihn beschützt oder an die Hand nimmt, und die Wahl zwischen lediglich zwei krassen Alternativen - befolge die Forderungen anderer, oder verstecke dein wahres Ich und riskiere schreckliche Konsequenzen für den Fall, dass man dir auf die Schliche kommt. Eine schreckliche, zufällige Entdeckung zwingt ihn zu einer Entscheidung, und die Geschichte beschreibt die aus dieser Tat resultierenden, immer dramatischeren Folgen: Er muss fliehen, einen neuen Platz in der Welt finden, sich verlieben, unglaubliche Freuden entdecken, von deren Existenz er keine Ahnung hatte, und die schreckliche Wahrheit erkennen, dass, wie sehr man die Vergangenheit auch abschütteln will, diese sich doch niemals abschütteln lässt.
Erik Schreiber
Wann und wo spielt der Roman?
Paul Hoffman
Ich wurde in einem Glauben erzogen, der teils dem Mittelalter, teils dem 19. Jahrhundert entstammt, und das spiegelt sich in dem Buch wider.
Erik Schreiber
Wenn ich den Pressetext richtig interpretiere, geht es um einen Jungen, dessen Wille mit allen Mitteln gebrochen werden soll, um ihn dann als eine hörige Person wieder aufzubauen. Ähnlich wie bei Sekten. Ist dem so?
Paul Hoffman
Die Katholische Kirche ist eine Sekte wie andere - nur eben eine sehr große.
Erik Schreiber
In Europa, vor allem Deutschland, wird gerade sehr heftig über sexuellen Missbrauch von Jugendlichen, auch durch die Kirche, debattiert. Ist Dein Buch eine Anklage?
Paul Hoffman
Die schwerwiegendste, die ich äußern kann. Ich möchte allerdings eines betonen: Selbst wenn keine der Anklagen des unfassbaren sexuellen Missbrauchs zuträfe, so bliebe die Kirche doch eine gefährliche Sekte, weil sie mit dem Mittel der Furcht (vor der Verdammnis, aber auch vor körperlicher wie psychischer Gewalt) Kindern den Glauben an die Autorität der Kirche einbläut, bevor die sich gegen diesen Ansturm aus Drohungen und Einschüchterung wehren können. Den Priestern an meiner Schule war es - natürlich - nicht erlaubt, uns umzubringen, aber alles andere, was in The Sanctuary passiert, kenne ich aus eigener Anschauung. Einen Unterschied gibt es jedoch zu dem gegenwärtigen Kirchenskandal: The Left Hand of God schneidet das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern kaum an. Ganz ohne Zweifel ist Missbrauch widerwärtig und noch weiter verbreitet, als es irgendjemand dachte - obwohl er weit genug verbreitet war für jeden, der genau hinschauen wollte -, trotzdem befürchte ich, dass die natürliche Abscheu vor sexuellem Missbrauch verschleiert, auf welch schwer wiegende, vielfältige Art und Weise die Kirche ihre Kinder unterdrückt hat. Katholische Kinder meiner Generation wurden wie selbstverständlich von Nonnen und Priestern geschlagen. Uns wurde beigebracht, dass wir von Grund auf sündig seien und eine Hölle voller Martern uns erwarte für den Fall, dass wir vom Pfade der Tugend abwichen - und die Vielfalt der möglichen Verfehlungen war endlos. Das Grundprinzip ethischen Verhaltens - nicht nur im Christentum -, dass man andere behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte, wurde schlicht nicht beachtet. Nur selten legten Priester und Nonnen uns gegenüber gewöhnliche, einfache, unspektakuläre, alltägliche Freundlichkeit an den Tag, und stets war unser Gehorsam die Voraussetzung dafür. Rund um die Uhr von diesen für ihre Arbeit meist völlig ungeeigneten Menschen umgeben zu sein, war eine eintönige, geisttötende Erfahrung, weil sie eine paranoide Furcht vor allem Menschlichen und Natürlichen empfanden. Es ist nicht so, als ob sie Pädophile gewesen wären: Von der Sorte hatten wir nur einen, und er wurde bei der ersten Beschwerde über sein Verhalten entfernt. Die Katholische Kirche ist eine Sekte, wenn auch eine gewaltig große, und geleitet wird sie von ungeeigneten alten Männern voller kranker Träume, in denen es um Gehorsam geht. Man darf nicht zulassen, dass die schrecklichen Fälle sexuellen Missbrauchs das verschleiern. Hätte die geschichtliche Entwicklung die Kirche nicht gezügelt - indem sie ihr die politische Macht nahm und sie der weltlichen Rechtsprechung unterwarf -, wäre unser aller Leben genau so wie in The Sanctuary. Wenn Sie finden, dass ich übertreibe, sollten Sie - falls Sie es ertragen können - die zwei Berichte lesen, die die irische Regierung kürzlich zum Thema Kindesmissbrauch in Irland während der vergangenen fünfzig Jahre veröffentlicht hat. Offensichtlich vereitelte die Kirche dank ihrer Macht über den Staat jeden Versuch, die Missstände publik zu machen, und der Staat war dabei ihr williger Helfer. Papst Benedikt ist durch und durch korrupt, aber nicht deshalb, weil er pädophilen Priestern gegenüber gleichgültig ist, sondern weil ihm, seit er die Macht besitzt, in dieser Sache einzuschreiten, der Ruf der Katholischen Kirche (und also deren grundlegendes Recht auf Gehorsam - die Grundvoraussetzung für ihr Fortbestehen) wichtiger ist als die Wahrheit. Nixon scheiterte, weil er die Wahrheit verheimlichte und man ihm auf die Schliche kam. Aber er saß nicht an den Schalthebeln einer Macht, die sich auf das ewige Wort Gottes berufen konnte. Niemand erwartet zu erleben, dass Papst Benedikt den Vatikan in einem Hubschrauber in Schimpf und Schande verlässt. Warum eigentlich nicht? Ich jedenfalls werde nicht schweigen.
Erik Schreiber
Bist Du damit ein sozialkritischer Phantast?
Paul Hoffman
Ich bin Dramatiker und Romanautor - die gesellschaftlichen Zustände sind dramatisch und verdienen es, zu Geschichten verarbeitet zu werden. Ein Teil von The Wisdom of Crocodiles spielt während einer weltweiten Bankenkrise, in der Finanzmarktaufsicht der Bank of England. Damals verstand niemand, warum ich eine Geschichte über solch ein langweiliges Thema schrieb.
Erik Schreiber
Wo siehst Du Dich politisch?
Paul Hoffman
Ich ertrage nicht, irgendeinem Glaubenssystem zu folgen - aus mittlerweile vielleicht klar gewordenen Gründen.
Erik Schreiber
Der Junge namens Cale muss sich in einer für ihn unbekannten Welt durchsetzen. Welches Vorbild hast Du für Cale und welches für die Welt?
Paul Hoffman
Das Vorbild sind ich und meine Freunde, wie wir versuchten unsere Jahre in katholischer Gefangenschaft zu überleben. Wir waren ein ziemlich abstoßender Haufen, dafür aber körperlich wie geistig sehr stark. Nur wurde die Stärke genährt von Hass und Verlust.
Erik Schreiber
Siehst Du in Cale einen Helden oder eher einen Anti-Helden?
Paul Hoffman
Eigentlich beides. Er kämpft einen schrecklichen Kampf dagegen, in seiner Wut zu versinken. Diese Art Kampf ist weiter verbreitet, als man im Allgemeinen denkt. Jeder empfindet tief gehenden Zorn, aber oft verbergen wir den Kampf vor der Welt wie vor uns selbst. In uns allen steckt eine Gorgo. Die Left-Hand-of-God-Trilogie benutzt Cale und seine Geschichte dazu, ihn als eine Art Jedermann/Jederfrau darzustellen. Seine Wut ist universell, aber man kann sich ihr nur in diesem bestimmten Zerrspiegel nähern, der die Geschichte unterhaltsam und nicht schrecklich erscheinen lässt - siehe Perseus und sein Spiegel.
Erik Schreiber
Wird es eine Trilogie? In Deutschland sind diese Art Veröffentlichungen zur Zeit modern.
Paul Hoffman
Ja.
Erik Schreiber
Bis wann möchtest Du die Trilogie abgeschlossen haben?
Paul Hoffman
2012.
Erik Schreiber
Für welches Lesealter ist der Roman gedacht? Ein Jugendbuch ist es wohl nicht?
Paul Hoffman
Er ist für Leser jeden Alters. Dass Cale 15 ist, ist ohne große Bedeutung. Das Buch ist genauso wenig/sehr ein Drama über Jugendliche wie Romeo und Julia.
Erik Schreiber
Hast Du danach schon Pläne für neue Romane?
Paul Hoffman
Immer.
Erik Schreiber
Vielen Dank für Deine geduldige Beantwortung der Fragen. Ich wünsche dir noch viel Erfolg für die nächsten Vorhaben.