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Karl-Heinz Witzko Karl-Heinz Witzko wurde 1953 geboren und wuchs in Stuttgart auf. Nach dem Studium in Tübingen und Dortmund war er als diplomierter Statistiker in der epidemiologischen Forschung tätig. Das Rollenspiel lernte er nach Erscheinen des Schwarzen Auges kennen. Erst als Spieler, dann als Schreiber. Anfang der 90er wurde er Redakteur bei Das Schwarze Auge, wo er den Spielern vor allem als Schöpfer der maraskanischen Kultur in Erinnerung blieb. Angeblich liebt er ausgedehnte Spaziergänge in Begleitung argloser Haustiere, die für gewöhnlich nach einiger Zeit unter mysteriösen Umständen (z. B. Koboldentführungen) verschwinden. |
Das Interview:
Erik Schreiber:
Hallo Karl-Heinz, vielen Dank für Deine Bereitschaft, mir ein paar Fragen zu Deiner Person und Deinem Schaffen zu beantworten.
Karl-Heinz Witzko:
Hallo Erik!
Erik Schreiber:
Über Dich als Person ist recht wenig bekannt. Bist Du immer so spartanisch mit Deinen Aussagen?
Karl-Heinz Witzko:
Nein, ich handhabe das äußerst flexibel. Meiner Zahnärztin etwa verrate ich durchaus mitunter, warum ich eigentlich in ihrer Praxis bin. Ist vielleicht auch keine schlechte Idee.
Erik Schreiber:
Na, ich weiß nicht, ein wenig weibliche Intuition und sie weiß es auch.
Karl-Heinz Witzko:
Deswegen auch „mitunter“. Aber lass uns lieber das Thema wechseln, bevor das hier zu einer dadaistischen Fingerübung wird.
Erik Schreiber:
Was treibst Du, wenn Du nicht arbeitest, nicht schläfst, schreibst oder spazieren gehst?
Karl-Heinz Witzko:
Gelegentlich treffe ich mich mit Freunden zum Rollenspiel. Meistens zu einem Fantasyrollenspiel, aber nicht zwangsläufig. Weiterhin interessiere ich mich, seitdem ich in zarter Jugend einige psychedelische Platten in die Hände bekam, für populäre Musik in vielen Strömungen. Meine Vorlieben wechseln alle paar Jahre, und wie ich heute ab und zu feststelle, habe ich zu gewissen Zeiten einige meiner LPs/CDs offensichtlich aus schierem Snobismus erworben. Wie meine Leser wissen, zitiere ich gerne im Vorwort meiner Bücher Liedtexte, manchmal auch im Roman selbst, dann natürlich eingedeutscht. Schließlich schaue ich auch noch die Fernsehserien, die gerade hip, in und en vogue sind. Nicht alle, natürlich.
Erik Schreiber:
Das bedeutet, wir werden demnächst Richter Hold als elfischen Richter erleben, mit Zwergen als Verteidiger, wenn es darum geht, Menschen zu richten, die sich weigern, an Märchen zu glauben?
Karl-Heinz Witzko:
Genau! Nur mit dem Unterschied, dass der Vorfall, bei dem sich Schneewittchen an der Spindel sticht und ihr anschließend der Schuh nicht mehr passt, nicht nach einem Ball angesiedelt ist, sondern während einer Castingshow, bei der die zweite Besetzung für das bekannte Musical „Schneewittchen und Rosenrot“ gesucht wird. Aber das stimmt vielleicht nicht so ganz. Tatsächlich wird mein nächster Roman etwas konventioneller werden als die letzten. Das heißt, im Mittelpunkt stehen Menschen. Einige haben in der Vergangenheit ziemlich unschöne Dinge gemacht, die sich nun in der Gegenwart rächen. Es gibt eine große, zumindest lokal weltverändernde Kulisse, vor der ein Ringen um Schuld und Vergebung stattfindet und sich einige sehr, sehr düstere und hoffentlich auch dem Leser unheimliche Dinge abspielen. Das Ganze befindet sich allerdings noch in einem Entwicklungsstadium, in dem ich noch nicht allzu konkret werden will.
Erik Schreiber:
Wie bist Du zum Schreiben gekommen?
Karl-Heinz Witzko:
Angefangen habe ich damit während meines Studiums. Zunächst privat, dann im Rahmen einer Theatergruppe, deren Hauptautor ich nach und nach wurde.
Erik Schreiber:
Warum hauptsächlich Fantasy, was reizt dich daran?
Karl-Heinz Witzko:
Das hat vor allem historische Gründe, da ich durch ein Fantasyrollenspiel zum Bücherschreiben kam. Ich bin zwar mit Rittergeschichten aufgewachsen, mit den Sagen um Roland und Dietrich von Bern, mit Ivanhoe und Sigurd- und Falk-Comics, so dass mir das Genre nicht völlig fremd war, aber es ist eben doch eher zufällig. Allerdings hatten die Theaterstücke, die ich erwähnte, auch gelegentlich phantastische Elemente im weitesten Sinne.
Erik Schreiber:
Sigurd- und Falk-Comics kennt heute keiner mehr. Außer alte Männer wie ich. Bedauerst Du es, wenn solche Comics oder Ähnliches verschwinden?
Karl-Heinz Witzko:
Nö, das wäre gelogen. Als Kind fand ich diese Geschichten um Schwerter schwingende Helden ziemlich spannend, und daran, dass es sich mir ins Gedächtnis gegraben hat, dass Sigurd immer rot gekleidet herumlief und sein Adlat Bodo immer grün, sieht man ja, dass sie mich sehr beeindruckt haben. Doch irgendwann habe ich das Interesse an Comics verloren. Tatsächlich kann ich auch mit den meisten Comicverfilmungen nicht so sehr viel anfangen.
Erik Schreiber:
Könntest Du Dir Deine Bücher auch als Comics vorstellen?
Karl-Heinz Witzko:
Klar doch, fände ich lustig! Allerdings müsste man manchmal die Dialoge etwas kürzen.
Erik Schreiber:
Welches war Dein erster Roman?
Karl-Heinz Witzko:
Das war der Roman Treibgut aus dem Jahr 1996, dessen Hauptfigur, ein Auftragsmörder, bei meinen Lesern sehr populär wurde.
Erik Schreiber:
Woher kommen die Ideen für Deine Geschichten?
Karl-Heinz Witzko:
Am Anfang steht meistens eine spontane Eingebung, die sich in ein, zwei Sätzen zusammenfassen lässt. Das reicht natürlich nicht für einen Roman aus, deswegen ist alles, was sich daran anschließt, Arbeit und Tüftelei.
Erik Schreiber:
Welches Deiner Bücher hat Deine Schreibarbeit am meisten geprägt?
Karl-Heinz Witzko:
Eigentlich keines, da ich öfter mal etwas Neues ausprobiere. Sei es, dass ich statt direkter, vorwiegend indirekte Rede verwende (wie in Westwärts, Geschuppte!) oder Kapitel so miteinander verkette, dass die Schlusssätze des einen die Anfangssätze des nächsten sind (Traumbeben) oder dass ich mit Leitmotiven arbeite, wie in Die Kobolde, also ähnliche Ereignisse mit ähnlichen Beschreibungen einleite.
Erik Schreiber:
Die ersten Schritte als Schriftsteller begannen mit dem Schwarzen Auge. Kannst Du ein wenig darüber erzählen, wie alles begann?
Karl-Heinz Witzko:
Eigentlich eine recht spaßige Geschichte, denn am Anfang meines Kontaktes mit dem Schwarzen Auge stand ein Briefwechsel über einiges, was mir an der Spielwelt nicht passte. Der damaligen Redaktion gefielen Ton und Stil dieser Beschwerdebriefe so gut, dass ich zur Mitarbeit eingeladen wurde. So wurde ich Redakteur. Ich schrieb dann einige Soloabenteuer, die ja im Grunde gemäßigt interaktive Geschichten mit stückweise alternativen Verläufen sind. Eines Tages wurde ich vom Chefredakteur angerufen und gefragt, ob ich Lust hätte, einen Roman zu schreiben. Klar, meinte ich.
Erik Schreiber:
Und dann hast Du Dir eine Überschrift ausgedacht und losgeschrieben?
Karl-Heinz Witzko:
So ungefähr schon. Allerdings kam die Überschrift wahrscheinlich nicht am Anfang. Die ist stets Verhandlungssache mit dem Herausgeber, der ja auch Vorlieben hat, z. B. was die Anzahl der Wörter auf dem Cover anbelangt.
Erik Schreiber:
Für Dich war Das Schwarze Auge auch eine Art Fleißarbeit? Zu lernen, konzentriert zu arbeiten, Termine einzuhalten und all das, was damit zusammenhängt, um ein Buch zu schreiben?
Karl-Heinz Witzko:
Nein, als Fleißarbeit habe ich das nie begriffen, und alles, was Du aufzählst, muss man auch als Statistiker leisten, zumal in der Drittmittelforschung, wenn Projekte so kurze Laufzeiten haben, dass man sich schon beinahe am ersten Tag an den Abschlussbericht setzen muss.
Erik Schreiber:
Mit Westwärts, Geschuppte! schreibst Du einen der ersten deutlich humoristischen Romane. Liegt es Dir eher, humorvoll zu schreiben?
Karl-Heinz Witzko:
Wenn ich einen lustigen Text schreibe, dann hat das auch ein bisschen Auswirkungen auf meine Stimmung. Aber ansonsten begreife ich humorvoll oder nicht humorvoll nur als unterschiedliche Herangehensweisen an eine Geschichte. Ich entscheide zu Anfang eines Romans, welche Erzählweise mir für das jeweilige Thema geeigneter erscheint.
Erik Schreiber:
Später kamen Die Kobolde dazu. Auch nicht ernst zu nehmen. Wo sonst gibt es intelligente, sprechende Holztüren?
Karl-Heinz Witzko:
Wenn ich Dich korrigieren darf: zwar nicht ernst, aber durchaus ernst zu nehmen. Wenn man Menschen und Nichtmenschen in unterschiedlichen Reichen/Welten/Dimensionen ansiedelt, dann braucht man irgendeine Methode, um die Protagonisten hin und her schicken zu können. Türen, die man durchschreitet, um von hier nach dort zu gelangen, sind nahe liegende Bilder. Türen und Gänge. Stargate arbeitet ähnlich: Man durchschreitet eine Tür, sprich: das Gate, bewegt sich durch einen unsagbar langen Gang - das Wurmloch - und gelangt am Ende wieder durch eine Tür ins Freie. Dass nun allerdings meine Türen keine geheimnisvollen Artefakte sind, sondern sprechen und charakterliche Eigenarten entwickeln, das ist wohl eher meine persönliche Herangehensweise.
Erik Schreiber:
Welche Quellen hast Du für Die Kobolde angezapft? Wenn ich den Roman richtig deute, waren zumindest die Märchen der Gebrüder Grimm beteiligt.
Karl-Heinz Witzko:
Da Kobolde zuerst einmal Geschöpfe der europäischen Märchen und Sagen sind, hätte ich es seltsam gefunden, in einem Roman mit dem Titel Die Kobolde diese Herkunft zu ignorieren. Deswegen wurde die Bezugnahme auf Märchen ein gemeinsames Merkmal meiner Koboldgeschichten. Im ersten Roman habe ich mehrere Märchen zitiert, in der Kurzgeschichte „Dicke rote Männer“ hat dann Hans Christian Andersens „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ einen Auftritt, während bei „König der Kobolde“ die Ballade „Pretty Polly“ als eine Art düsteres Märchen eine Erweiterung dieses Elementes darstellt. Daneben gab es manches, das sich einfach so anbot, etwa einen Bericht über eine Entführung durch Kobolde mit allen Merkmalen von Erzählungen über Alienentführungen zu versehen etc.
Erik Schreiber:
Wie kamst du auf die Namen Brams und der anderen?
Karl-Heinz Witzko:
Ich formuliere zu Beginn eines jeden Romans Regeln, wie die Namen von Personen und Orten generiert werden sollen, damit sie später wie aus einem Guss wirken und typisch für die jeweilige Region. So sollten die Menschen, die in Die Kobolde auftreten, wegen der besonderen Situation des Schauplatzes vorwiegend kantige oder martialische Namen tragen. Als Basis habe ich deutsche Namen genommen, eben auch wegen des Märchenbezugs. Wenn sie nicht schon von sich aus geeignet waren, wie z. B. Neidhart, so habe ich sie leicht verfremdet, etwa indem ein Friedhelm zu einem Krieghelm wurde. Für die Kobolde hatte ich entschieden, dass ihre Namen wegen des anarchischen Charakters ihrer Träger möglichst willkürlich und ohne erkennbare Gemeinsamkeit sein sollten. Die Ortsnamen wiederum sind generische Fantasynamen oder entstammen - das gilt besonders für die völlig unseriösen - einem Verzeichnis deutscher Gemeinden.
Erik Schreiber:
Und jetzt Dein neuer Roman Dämon wider Willen. Wie kamst Du ausgerechnet auf die Idee?
Karl-Heinz Witzko:
Der Verlag wollte, dass ich für die damals geplante Piper-Boulevard-Reihe einen humoristischen Roman beisteuere. Das Thema war frei. Irgendwann wurde ich nach einem provisorischen Titel für den künftigen Roman gefragt, und da ich zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal Vorstellungen vom Inhalt des Buches hatte, bekam ich zur Inspiration eine Liste generischer Titel geschickt. Ich las sie durch in der Hoffnung, dass mir ein ähnlicher einfiele, der mich möglichst nicht auf irgendeine bestimmte Handlung festlegen würde. Und dann hatte ich plötzlich die Prämisse des Romans im Kopf und fragte beim Verlag an, ob es zu diesem speziellen Titel schon ein Buch gebe, denn genau so wollte meines heißen. Bis zur vollständigen Geschichte war es dann natürlich noch ein Stück Weg..
Erik Schreiber:
Die Idee, mit Dämonen aus einer anderen Welt, die dann doch eigentlich keine Dämonen sind, ist ja nicht neu. In wie weit hat Robert Asprin Dich beeinflusst?
Karl-Heinz Witzko:
Gar nicht. Ich habe zwar die meisten Romane um Skeeve den Zauberer gelesen, aber die Ansätze sind ja ganz anders. Was ich bei Robert Asprin schätze, ist das Vermengen nicht ganz nahe liegender Elemente in den Geschichten, also Zauberer, Trolle, Mafiosi und Cäsars Offiziere. Damit steht er aber nicht allein. Der SF-Autor Ron Goulart hat bisweilen ähnlich schräge Ideen gehabt.
Erik Schreiber:
Ich persönlich habe mehr Geschichten erwartet von Menschen, die als Dämonen auftauchen. Eine Art Kurzgeschichtensammlung zum gleichen Thema. Statt dessen liegt ein Roman vor mir. Wie entstand der Roman? Wie seine Handlungsträger?
Karl-Heinz Witzko:
Klappentexte und Vorankündigungen sind ein Thema für sich. Zum einen will man nicht zu viel von der Handlung verraten, um die Spannung nicht zu verderben, zum anderen muss man doch einiges von ihr preisgeben, um einen Anreiz für den potenziellen Leser zu schaffen - und alles noch auf sehr begrenztem Platz. Es ist nicht ganz einfach, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Wenn in diesem Fall falsche Erwartungen bei Dir geweckt wurden, so ist das sicher als Panne zu sehen. Doch zum Roman. Ich arbeite mit einer Art Schachtelungsverfahren, d. h. die Handlung wird zunächst ganz formal in vier, fünf, manchmal mehr Abschnitte aufgeteilt. Die heißen dann vielleicht „Vorgeschichte und Einführung der Personen“, „Alltagsleben ohne Problem“, „das Problem und die Auswirkungen“, „Folgen und Bedrohungen“ etc. Auf diese Abschnitte werden ungeordnet die Ideen für die Szenen, die ich schon habe, aufgeteilt. Danach nehme ich mir den ersten dieser vielleicht fünf Abschnitte vor und fasse meine Ideen, Dialogfetzen und notwendigen Handlungselemente zu inhaltlichen Einheiten zusammen. Diese werden dann wieder auf formale Kapitel aufgeteilt. Das mache ich, weil die inhaltlichen Einheiten vielleicht zu lange wären oder es Gründe gibt, sie miteinander zu verzahnen, etwa indem zwei Handlungen in stetigem Wechsel erzählt werden. Nun schreibe ich die Kapitel des ersten Abschnitts und erfahre dabei gleichzeitig mehr über meine Geschichte und die Handlungsträger. Danach mache ich dasselbe mit dem zweiten Abschnitt. Das heißt, Feinstrukturen gibt es immer nur stückweise. Das Ganze ist ein dynamisches Verfahren, denn neue Erkenntnisse, die ich beim Schreiben erlange, wirken sich auf Inhalt und Aufbau der folgenden Abschnitte auf. Daneben gibt es noch Listen mit Ereignissen, die sich nicht ganz so leicht formal einordnen lassen, weil sie vielleicht von inhaltlichen Ereignissen abhängig sind. Meine Handlungsträger entstehen überwiegend beim Schreiben. Über die wichtigsten Eigenschaften mache ich mir zwar vorab Gedanken, etwa über Name, Alter, Herkunft etc., aber ihre Eigenheiten und das, was sie zu Personen macht, entstehen erst beim Schreiben.
Erik Schreiber:
Wie kam es zu dem großartigen Projekt Gezeitenwelt?
Karl-Heinz Witzko:
Die ursprüngliche Idee geht auf Bernhard Hennen zurück, der sich allerdings vom Umfang des Projektes - ein Dutzend Romane - überfordert fühlte und daher Mitstreiter suchte. Da er seit den 80ern beim Rollenspiel Das Schwarze Auge mitgearbeitet hatte, kannte er uns andere - also Hadmar Wieser, Thomas Finn und mich - und fragte uns einzeln, ob wir Lust hätten mitzumachen. Ich musste da gar nicht lange nachdenken, denn die Aussicht auf ein leinengebundenes Buch hat für einen Autor, der bisher nur Taschenbücher geschrieben hatte, etwas durchaus Verlockendes.
Erik Schreiber:
Wie wurden die Regionen dieser Welt verteilt?
Karl-Heinz Witzko:
Eigentlich gar nicht, denn bei unserem ersten gemeinsamen Planungsgespräch äußerte jeder Autor seine Vorstellungen, wie die Region und Kultur, über die er gern schreiben wollte, ungefähr aussehen sollte. Als uns dann die Geologen, mit denen wir zusammenarbeiteten, die Karte unserer Welt lieferten - die stammt ja nicht von uns Autoren -, haben wir einfach geschaut, wo unsere Staaten klimatisch und dramaturgisch am besten hinpassten.
Erik Schreiber:
Wie kamst Du zu dieser Region, der Sprache, den Kulturen etc.?
Karl-Heinz Witzko:
Ich hatte mir als Schlagwort für meine Kultur die Bezeichnung „polynesische Reitervölker“ ausgedacht. Allerdings sollte mein Staatsvolk eigentlich von zwei Völkern getragen werden. Einem schon immer sesshaften, das Burgen, Kokospalmen und die Kleidung beisteuerte, und einem Reitervolk aus den benachbarten Steppen, das vor längerer Zeit die Herrschaft über das andere Volk an sich gerissen hatte. Bei den Namen hatte ich mich eines kleinen Tricks bedient. Ich wollte, dass sie nach Südsee klangen. Polynesische Namen sind für uns jedoch fast unaussprechlich. Also habe ich als Basis für die Namen im Buch, da ich nichts eins zu eins übernehmen wollte, samoanische Verballhornungen europäischer Namen genommen und die dann wieder verändert bzw. ähnlich klingend erfunden. Daher verbergen sich hinter Kaperielu, Mekaelu, Refaelu und Ulielu eigentlich Gabriel, Michael, Raphael und Uriel.
Erik Schreiber:
Habt ihr es Euch nicht etwas einfach gemacht, die Hölle über die Welt hereinbrechen zu lassen und dann Eure Protagonisten reinzuschicken, damit sie für Euch die Kastanien aus dem Feuer holen?
Karl-Heinz Witzko:
Wir haben sie ja in jedem Augenblick begleitet. So waren sie nie allein. Als Autor fühlt man ja mit seinen Figuren mit, auch wenn man natürlich die Ursache sämtlichen Leids ist, das ihnen im Laufe der Handlung widerfährt.
Erik Schreiber:
Wie kam es zum Titel Gezeitenwelt?
Karl-Heinz Witzko:
Wer das Prequel unserer Geschichte - Geheimnis der Gezeitenwelt - gelesen hat, erfährt spätestens dort, dass das, was in unserer Hauptserie geschieht, sich nicht zum ersten Mal auf dieser Welt zuträgt. Es gibt Phasen, wo die „Magie“ sehr stark ist, andere, wo sie sehr schwach ist. Wie Ebbe und Flut.
Erik Schreiber:
Dein Land Ikarilla war so schön paradiesisch. Palmen, Sandstrand und so weiter. Tut es nicht weh, so ein Land zu zerstören? Quasi Adam und Eva aus dem Paradies zu vertreiben?
Karl-Heinz Witzko:
Kein bisschen, denn die Vernichtung der alten Welt war ja die Prämisse. Tatsächlich geht es den größten Teil des Romans weniger um die Zerstörung des Landes als um die der menschlichen Ordnung. Verkehrswege werden durchtrennt, so dass es statt eines Staates nur noch eine Anhäufung mehr oder weniger isolierter Gemeinwesen gibt. Die alte Führungsschicht wird größtenteils ausgelöscht und ersetzt durch teils ratlose, teils zur übelsten Tyrannei neigende Nachfolger. Die Zerstörung des Landes, die ich am Absterben der Palmen festmachen würde - eines sehr vielseitigen Rohstoffes, wie Du Dich erinnerst -, wird ja im Roman nur nebenbei gegen Ende erwähnt. Was nun die Vertreibung aus dem Paradies angeht: Das ist ja nicht ganz so einfach zu beantworten. Wie Du weißt, ist einer meiner Protagonisten ein Geier, den ich seither gelegentlich auch als „Bürger der neuen Zeit“ bezeichnet habe. Für ihn verwandelt sich die Welt gerade in ein Paradies. Allerdings ohne eine Eva, denn der trauert er genauso hinterher wie die anderen beiden Protagonisten.
Erik Schreiber:
Da die ersten vier Romane praktisch gleichzeitig spielen, ist es egal gewesen, mit welchem Roman man zu lesen begann?
Karl-Heinz Witzko:
Das war zumindest unser Plan. Dahinter steckte unter anderem die Überlegung, dass wir vier wahrscheinlich nicht die gleichen Stammleser hatten und es schwierig werden könnte, diese dazu zu bewegen, bis zu drei Bücher von anderen Autoren zu lesen bis sie zu dem kämen, der sie vielleicht hauptsächlich interessierte. Sie sollten im Gegenteil den Roman lesen, der sie am meisten ansprach, und danach hoffentlich auch alle anderen. Das klappte jedoch nicht. Denn jedesmal wenn wir wieder von uns gaben, man könne mit einem beliebigen Roman beginnen, kam wieder aus irgendeiner Richtung: Das stimmt, aber am besten fängt man doch mit dem ersten an!
Erik Schreiber:
Wo sollte der Weg hinführen? Das Projekt ist, gelinde gesagt, riesig. Wird es in absehbarer Zeit weitergeführt?
Karl-Heinz Witzko:
Nach den separaten Anfängen sollten sich die Handlungsstränge einander annähern und ineinander verschlingen. Um jetzt mal für mich zu sprechen: Mir hätte in meinem zweiten Roman eine Begegnung mit der Sphinx bevorgestanden und ein sehr langer Ausflug in den Nordkontinent, den wir bisher nur stückweise durch Bernhard kennen gelernt haben. Es gibt da schon noch einiges andere. Zudem sollte es in der Geschichte zentral um eine Frau und ein Kind gehen, die in Traumbeben nicht nur vom Autor, sondern auch von jeder einzelnen seiner Figuren - selbst unserer Chronistin - penetrant und auch mit begründeter Scheu totgeschwiegen wurde. Dabei sollte der Grad der Phantastik - siehe Gezeiten und Flut! - bei uns allen immer weiter zunehmen. Die Frage nach einer Weiterführung der Serie ist nicht ganz einfach zu beantworten. Gegenwärtig besteht keine solche Aussicht, allerdings gilt nach wie vor: Sobald mehr als zwei von uns vieren beisammen sind, ist unser gemeinsames Projekt irgendwann Gesprächsthema.
Erik Schreiber:
Welche Literaturvorlieben hast Du?
Karl-Heinz Witzko:
Das fluktuiert ziemlich. Früher habe ich sehr viel Science Fiction gelesen, aber heutzutage sind für mich die Autoren meist wichtiger als das Genre. Das heißt, wenn ich einen gut finde, so stört es mich im Allgemeinen nicht, wenn er das Genre wechselt und etwas ganz anderes schreibt, als ich ursprünglich von ihm gewohnt war. Das lese ich dann auch gern oder zumindest interessÃert. Meist sind es allerdings Angelsachsen. Um ein paar Namen zu nennen: Robert Asprin (Fantasy), Patricia Cornwell (Krimis), David Lodge, Sue Townsend und Hanif Kureishi (zeitgenössisches UK), Mika Waltari (historische Romane und anderes). Jedoch ist Letzterer strenggenommen kein Angelsachse im engeren Sinne, sondern Finne.
Erik Schreiber:
Kennst Du andere europäische Fantasy-Literatur oder bist Du auch so festgefahren in der englischsprachigen Fantasy?
Karl-Heinz Witzko:
Festgefahren, beinhart! Eigentlich lese ich gar nicht so viel Fantasy, aber das meiste ist tatsächlich englischsprachig. Ich kenne einiges an neuerer deutscher Fantasy. Das kommt vor allem daher, weil man sich unter Kollegen auch gerne mal über die laufenden Projekte austauscht. Man kann sich ja nicht ständig über Richter Hold etc. unterhalten. Am Ende müsste ich mich dann vielleicht sogar kundig machen, worüber ich eigentlich ständig rede!
Erik Schreiber:
Was würdest Du gerne einmal schreiben, oder worüber?
Karl-Heinz Witzko:
Das lässt sich recht leicht beantworten, denn eigentlich denke ich nur, wenn ich muss. Das heißt, es gibt keine Projekte, die ich jahrelang im stillen Kämmerchen hege und pflege. Ich versuche stattdessen etwas, das ich gerne erzählen oder einmal ausprobieren möchte, im nächsten Roman unterzubringen, und bereite dann die Geschichte oder mein stilistisches Instrumentarium von Anfang an so auf, dass es klappt. Ich habe gerade am Wochenende ein altes Stück von Blues Project gehört, „Two Trains Running“, in dem die Zeilen vorkommen:
I went down to my baby's house/ And I fell down on her steps/ She said come in, come in, Danny/ Oh well my other man/ well my other man/ Don’t you know my husband he just left.
Jetzt erwäge ich, eine etwas schwül-explosive Geschichte im neuen Roman einzubauen.
Erik Schreiber:
Kann Literatur die Welt verändern?
Karl-Heinz Witzko:
Es ist sicher oft schwer zu sagen, ob Literatur verändert oder nur zum Sprachrohr der Veränderung wird. Es gibt jedoch Beispiele, wo Literatur nicht gleich die Welt, aber zumindest Teile von ihr veränderte. Upton Sinclair veröffentlichte 1906 seinen Roman Der Dschungel, in dem es um das Schicksal osteuropäischer Einwanderer in die USA geht und ihre rücksichtslose Ausbeutung. Teile des Romans schildern die unsäglichen Zustände in den Schlachthöfen Chicagos - nicht alles, was sich Corned nannte, enthielt auch Beef. Dieser Roman führte zur Änderung von Lebensmittelgesetzen und Hygienevorschriften. Aber darum war es Sinclair gar nicht gegangen. Deswegen kommentierte er seinen Erfolg mit den resignierenden Worten: „Ich zielte auf ihre Herzen, aber ich traf ihre Mägen.“ Wenn Literatur die Welt verändert, dann also nicht immer zwangsläufig so, wie es sich der Autor vorstellte.
Erik Schreiber:
Welche Bedeutung hat Literatur für Dich?
Karl-Heinz Witzko:
Sie hat mich zuerst unterhalten, später auf neue Gedanken gebracht und mich schließlich gelehrt, schöne Sätze zu würdigen.
Erik Schreiber:
Lieber Karl-Heinz, vielen Dank für die ausführlichen Antworten auf die neugierigen Fragen eines Herausgebers. Ich wünsche Dir noch alles Gute und viel Erfolg mit den nachfolgenden Projekten.