Serie / Zyklus: ~ Besprechung / Rezension von Jürgen Veith |
Wow! Was für ein Buch! Mit einem Paukenschlag meldet sich Matt Ruff zurück! Seine bisher erschienenden Werke G.A.S und Fool on the hill haben längst Kultstatus erreicht. Für Ich und die anderen lag die Messlatte entsprechend hoch. Wie unbeirrt und spielerisch Matt Ruff diese Erwartungshaltung erfüllen und dem Leser überraschen konnte, ist beeindruckend.
Nach wie vor lässt Matt Ruff sich in keine Schublade stecken. Bestenfalls lassen sich seinen Werken stilistische Etiketten zuordnen wie "Innovativ", "Cross-Over" oder "Ideen-Literatur", in ein Genre-Korsett passen sie dagegen nicht!
Streng genommen ist Ich und die anderen daher weder Science Fiction noch Fantasy, allenfalls Phantastik und das auch nur im erweiterten Sinne. Allerdings mutet der Plot trotz aller Realitätsnähe derart phantastisch an, dass der Roman ein besonderer Leckerbissen auch für Science Fiction Freunde ist.
Worum geht es diesmal?
Andrew Gage leidet unter Multipler Persönlichkeitsstörung (MPS). In seinem Kopf hausen eine Vielzahl von Seelen: der ängstliche kleine Junge Jake, der unberechenbare Onkel Gideon, der allwissende Vater Aaron, der sexbesessene Teenager Adam und viele mehr. Andrew hat sich mit seinen Mitbewohnern gut arrangiert. Er kontrolliert sicher die Persönlichkeiten und erteilt jedem Gelegenheit, auch mal in den Vordergrund zu treten und sich des Wirtskörpers zu bedienen. Andrew hat eine Anstellung bei Reality Factory gefunden und sein Leben unter Kontrolle gebracht.
Dies ändert sich, als seine neue Kollegin Penny bei Reality Factory anheuert. Denn Penny leidet ebenfalls unter MPS, allerdings ohne es zu wissen. Andrew steht Penny zunächst skeptisch gegenüber. Er ist froh, sein eigenes Leben in den Griff bekommen zu haben und sieht sein Gleichgewicht bedroht. Trotzdem kommen sich die beiden näher. Eigentlich sind es gar nicht 2 Menschen, sondern viele einzelne Persönlichkeiten die sich annähern, da Penny die Übernahme ihres Körpers durch eine in ihr schlummernde Seele nicht verhindern oder gar kontrollieren kann. Penny ist sich dessen nicht einmal bewusst und erlebt die Übernahmen als Blackouts. Als die Situation immer mehr aus den Fugen gerät begeben sich die beiden auf die Suche nach ihrer Herkunft, danach, was sie zu dem gemacht hat, was sie heute sind. Sie stoßen auf eine Überraschung!
Matt Ruff präsentiert eine eindringliche Erzählung, bei der trotz der Intensität und Ernsthaftigkeit auch der Humor nicht zu kurz kommt. Die Protagonisten sind bis zur kleinsten Nebenrolle lebendig beschrieben und der Leser bangt mit ihnen, freut sich mit ihnen, ja lebt mit ihnen. Beinahe fühlt man sich als weitere Identität in die Köpfe von Andrew und Penny versetzt. Man ist betroffen aber - Hand aufs Herz - gleichzeitig lacht man über die kuriosen Situationen, in die die beiden geraten. Hört sich das nach "kein Fisch und kein Fleisch" an? Nein, keine Sorge: Ich und die anderen ist das perfekte Degustationsmenü! Ein Buch für jedermann. Ein Buch, das berührt.
Spätestens nach einem Drittel des Buches regt sich das schlechte Gewissen: Ergötze ich mich an dem Leid anderer? Ja, das tue ich. Allerdings ist das nicht tragisch oder gar verwerflich. Man empfindet Mitleid, fiebert mit und kann auch die Gefühle der Protagonisten nachvollziehen. MPS wird nicht als Tabu-Thema behandelt. Vielmehr geht Matt Ruff damit offen und unverkrampft um. Er lässt den Leser den Ernst der Angelegenheit ein ums andere Mal völlig vergessen ohne dabei in die Albernheit abzurutschen! Meisterlich!
Neben dem übergreifenden Handlungsrahmen werden eine Vielzahl von kleinen abgeschlossenen Geschichten geboten, die dem Buch die nötige Tiefe verleihen. Es gibt nicht eine Stelle, die zäh geschrieben ist oder wo nach einer Unterbrechung der Wiedereinstieg schwer fallen könnte. Dafür sorgen eine Vielzahl von Ködern und Appetithäppchen, die einen immer wieder zum Weiterlesen animieren.
Das Buch ist in wechselnden Perspektiven geschrieben, vereinzelt erlebt der Leser gleiche Szenen einmal aus Andrews und einmal aus Pennys Sicht. Weitere Hintergründe werden durch zahlreiche Rückblenden erschlossen. Die Dialoge sind lebendig und realitätsnah und die Übersetzungsfehler halten sich in Grenzen.
Gibt es überhaupt noch etwas auszusetzen? Eigentlich nicht! Nur wenn das Buch sich mit sich selber misst! In der 2. Hälfte bleibt der Humor etwas auf der Strecke. Auch die Spannung fällt ein klein wenig ab, die Rahmenbedingungen sind inzwischen klar und die Auflösung wird langsam vorbereitet. Hier benötigt das Werk einen kleinen Anlauf um am Ende wieder rasant Fahrt aufzunehmen und sich dem fulminantem Finale zu nähern. Dieses mag dem ein oder anderem ein wenig aufgesetzt erscheinen. Auch der Zufall wird hier etwas überstrapaziert. Etwas weniger Hollywood wäre passender gewesen.
Trotzdem führt all dies nicht zur Abwertung, denn dieser Eindruck ist wirklich sehr subjektiv. Ich und die anderen ist etwas Besonderes. Ein Buch, das sich im Gedächtnis haften bleibt. Erfrischend anders. Ich empfehle: Kaufen, Lesen, nochmals Kaufen und vielen weiteren Menschen damit eine Freude machen.
10 von 10 Punkten
Ich und die anderen - Rezension von Rupert Schwarz