Titel: Ich bin Legion Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
Dezember 1942: Der Vormarsch der deutschen Kriegsmaschinerie findet nicht nur vor Stalingrad ein blutiges Ende; schon im Oktober dieses Jahres erfuhr der Afrikafeldzug durch den Gegenangriff Montgomerys bei Al-Alamein eine entscheidende Wendung. In dieser angespannten Situation sucht die militärische Führung Deutschlands ihr Heil unter anderem in Mystizismus und Okkultismus.
Unter Leitung des SS-Offiziers Rudolf Heyzig arbeitet man in Bukarest am Projekt "Legion", dessen Deckname sich aus dem Markus-Evangelium ableitet (Der Herr fragte den Mann:"Wie heißt du?" Er antwortete: "Mein Name ist Legion. Denn wir sind viele."). Ein kleines Mädchen ist in der Lage, durch das Injizieren seines Blutes Lebewesen zu kontrollieren, selbst wenn diese normalerweise tödliche Wunden erlitten haben. Doch noch ist die Anzahl der simultan Kontrollierten begrenzt, sodass die Forscher bemüht sind, erstens die Grenzen des Kindes auszuloten und diese dann zweitens auszuweiten, um anschließend eine Armee unbesiegbarer, bedingungslos gehorchender Soldaten zu schmieden.
Allerdings ist Heyzigs Lage prekär. Nicht nur dass Hermann von Kleist, ein Protegé Admiral Canaris', des nicht linientreuen Leiters des Auslandsgeheimdienstes der Wehrmacht, Einblicke in das Projekt fordert, um es zu beurteilen und ggf. im Sinne seines Mentors zu beeinflussen, auch eine kleine rumänische Widerstandsgruppe formiert sich, um dem Treiben des Deutschen ein Ende zu setzen. Zudem steht permanent die Frage im Raum, ob sich das Mädchen steuern lässt oder ob es nicht das Kind ist, dass die Forscher manipuliert.
Während in Bukarest Kriegsgefangene in ruchlosen Experimenten missbraucht werden, untersucht in England Stanley Pilgrim im Auftrag des englischen Geheimdienstes einen Mord, dessen seltsame Umstände Fragen aufwerfen, deren Antworten ebenfalls in Rumänien zu liegen scheinen. Von einem Spion in Heyzigs Umfeld erfahren die Briten von den Plänen des SS-Offiziers und beschließen daraufhin, den Deutschen zu eliminieren. Doch auch dieses Vorhaben steht unter keinem guten Stern, denn in den britischen Reihen befinden sich blutgebundene Verräter und es gibt mehr als nur einen Strigoi, der von Personen Besitz ergreifen kann.
Was auf den ersten Blick wie ein kruder Mix aus altbekannten Storyelementen vor einem ausgelutschten Hintergrund aussieht, erweist sich schnell als komplexe, spannende Geschichte mit mehren Handlungssträngen, -orten und -ebenen, die gerade zu Beginn dem Leser einiges an Konzentration abverlangen. Hat man sich jedoch in das Mystery-Crime-Setting erst einmal eingelesen, nehmen einen sowohl Inhalt als auch Atmosphäre bis zur letzten Seite gefangen
Bemerkenswert an Nurys Ansatz ist, dass der Autor weitgehend auf Schwarzweißmalerei verzichtet und den moralisch-politischen Zeigefinger nur zurückhaltend erhebt. Weder stilisiert er die Nazi per se zu quasi außerirdischen Monstrositäten, sondern zeigt sie - realitätsnah - als im Zweifelsfall gebildete, schöngeistige, ggf. grausame Ehrgeizlinge, die sich mit der Staats-Ideologie mehr oder weniger arrangieren, noch spricht er deren Gegenspieler - Briten, rumänischen und innerparteilichen Widerstand - gleichsam heilig. Nurys Protagonisten sind mehrdimensionale Charaktere fernab jener üblichen Comic-Stereotype, die bspw. die an die Pulp-Literatur angelehnten Comics des Hellboy- oder B.U.A.P.-Universums bevölkern.
Das Tempo der Geschichte ist unterm Strich eher gemächlich, d.h. die Handlung entwickelt sich mit Bedacht und zwar primär sowohl über die Dialoge - Narrative Boxes werden sehr sparsam eingesetzt -, als auch über das Artwork. Allerdings wird der ruhige Erzählfluss immer wieder durch Action-Szenen unterbrochen, die sich z.T. durch große Brutalität und Grausamkeit auszeichnen, welche jedoch nur selten plakativ sind, sondern sich harmonisch in die Geschichte eingliedern.
Die große Schwäche von Nurys Erzählung liegt zweifelsohne in der Bezugnahme auf den Graf-Dracula-Mythos, der der gesamten Story einen trashigen B-Movie-Touch gibt und der für ihr Funktionieren vollkommen unnötig ist. Mystery bedarf nicht immer der Erklärung, erst recht keiner so unoriginellen.
Das Artwork des Zeichners Cassaday und der Koloristen Laura DePuy (aka Laura Martin) ist von bestechender Klarheit und atmosphärischer Tiefe. Den Künstlern gelingt es, in ihren Bilder jenen Zeitgeist einzufangen, den wir rückblickend mit jener Zeit assoziieren, wobei dieser Geist nicht nur über modische Accessoires, sondern eben auch über die gedämpften, kühlen und Funktionalität - statt Individualität - ausstrahlenden Farben transportiert wird.
In den hochrealistischen Zeichnungen bemüht sich Cassaday, Individuen mit einmaligen, lebendigen Physiognomien zu entwerfen, Menschen, denen man 1942 auf vielen Straßen Europas hätte begegnen können. Und sein Bemühen ist von Erfolg gekrönt, wobei sich für einige Leser das Problem stellt, dass auf Grund des Verzichtes der visuellen Überspitzung, welche im Comic Charaktere häufig auf wenige signifikante Merkmale (Frisuren, Farbe des Kostüms, Tattoos ...) reduziert, in einigen Panels ein zweiter und dritter Blick erforderlich wird, um die Protagonisten zu identifizieren. Dieses ist jedoch nicht Ausdruck der Unfähigkeit Cassadays, aussagekräftig zu zeichnen, sondern Ausdruck der Unfähigkeit des Lesers, angemessen zu beobachten. Das heißt also, "Ich bin Legion" erfordert neben der Konzentration auf die Story eben auch eine Konzentration auf das Artwork und ist damit kein Comic, welches man einfach nebenbei durchblättern kann, ohne etwas zu "verpassen".
Der redaktionelle Teil diese hochwertigen Hardcover-Bandes besteht in einem (zu) kurzen Abriss Stefan Pannors über die historische Entwicklung des Comics dies- und jenseits des Atlantiks.
Fazit: Das exzellente Artwork, die komplexe, düstere Mystery-Geschichte, die trotz des historischen Hintergrundes weitgehend auf Schwarzweißmalerei verzichtet, sowie vielschichtige Charaktere machen "Ich bin Legion" zu einer teuflisch heißen Lese-Empfehlung.