Hugo Awards 2008 - die nominierten Kurzgeschichten Autoren: Stephen Baxter - Last Contact Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
[4354 Wörter] [Erstveröffentlichung 2007 in: George Mann (Hrsg.), The Solaris Book of New Science Fiction]
Maureen said, "The sun went, right on cue."
"Oh, it’s all working out, bang on time."
"The Big Rip" steht bevor, der Weltuntergang. Irgendein Ungleichgewicht zwischen Antimaterie und Dunkler Energie zerstört das Universum, und am 14. Oktober wird die Katastrophe auch unsere Erde erreichen. Nach und nach verlöschen am Himmel die Sterne, während in ihrem Bungalow in Oxford die Witwe Maureen ihren Garten pflegt und dem bevorstehenden Ereignis keine übertriebene Aufmerksamkeit zollt.
Stephen Baxter beschreibt zwei Szenen mit Maureen und ihrer 35-jährigen Tochter, der Astronomin Caitlin: Am 15. März begutachtet Maureen den Rasen und diskutiert mit Caitlin über die Signale zahlreicher Superzivilisationen, die in letzter Zeit von irdischen Observatorien aufgefangen wurden. Am 5. Juni plant Maureen eine neue Pergola und redet mit ihrer Tochter über sich leerende Supermarktregale und den Entschluss von Caitlins Mann, seinen Job aufzugeben.
Dann endlich ist der 14. Oktober da: Maureen pflanzt noch schnell einige Osterglocken - sozusagen ihr Gegenstück zu Martin Luthers Apfelbaum. Die Sonne erlischt. Caitlin kommt überraschend vorbei, weil sie das Ende nicht schlafend zu Hause verpassen will. Und ganz zum Schluss ist sich Maureen sicher, was all die aufgefangenen Botschaften aus dem All bedeuteten.
Wenn es den Ausdruck "cosy catastrophe" nicht bereits seit Jahrzehnten gäbe, müsste er für "Last Contact" neu erfunden werden. Hier haben wir eine Weltuntergangsgeschichte, die ganz ohne äußere Dramatik auskommt. Zwei Mittelklassefrauen führen recht alltägliche, gesittete Gespräche, die durchzogen sind von einer gelassenen Ironie. Typisch britisch das Ganze: bloß keine peinliche Szene machen!
Wie anders sähe die gleiche Geschichte aus der Feder eines amerikanischen Autors aus. Sicher wäre die Melodramatik viel dicker aufgetragen. (Einmal ganz abgesehen von mordenden Jugendgangs, die die Rosen plattträten.) Am Ende lägen sich Mutter und Tochter weinend in den Armen und versicherten sich gegenseitig ihrer ewigen Liebe. All das erspart uns Stephen Baxter. Bleibt allerdings die Frage: Was bietet er uns stattdessen? Nun, Britishness natürlich, aber reicht das? Am 5. Juni kommt es zwischen Maureen und Caitlin zu folgendem Dialog:
"But some of [the signals] aren’t the sort of signal you can decode anyhow. In one case [an astronomer] picked up an artificial element in the spectrum ofa star. Something that was manufactured, and then just chucked in to burn up, like a flare."
Caitlin considered. "That can’t say anything but `here we are,’ I suppose."
"Maybe that’s enough."
"Yes."
Dies erschien mir bereits als die lyrischste Passage der ganzen Geschichte. Im Allgemeinen ist Baxters Erzählung sprachlich genauso alltäglich wie der Inhalt. Leider gelang es mir bis zum Ende nicht, den künstlerischen Mehrwert zu entdecken.
Elizabeth Bear - Tideline
[4257 Wörter] [Erstveröffentlichung Juni 2007 in: Asimov's]
Eine schwer beschädigte, vier Meter große, `weibliche’ Kriegsmaschine mit Namen Chalcedony durchwühlt auf einem Strand das angespülte Treibgut nach Gegenständen, aus denen sie Gedenkkränze für die 41 gefallenen menschlichen Mitglieder ihrer Kampfeinheit herstellen möchte. Dabei trifft sie auf einen vielleicht 13-14 Jahre alten, zerlumpten Jungen, Belvedere, der nach Muscheln sucht, von denen er sich ernährt. Nach einigen Tagen verliert der Junge die Scheu vor der fühlenden Maschine. Er sammelt für sie bunte Steine, sie kocht mittels Mikrowellen seine Muscheln, und allmählich entwickelt sich eine Kleinfamilie mit absehbar begrenzter Lebenszeit, weil Chalcedonys Energiereserven im Winter versiegen werden. Sie wird zu Belvederes Mutterfigur und Lehrerin. Sie zeigt ihm, wie er allein Nahrung findet; sie lehrt ihn Lesen, und sie erzählt ihm spannende Geschichten über König Artus, Horatio Hornblower, Jack Aubrey sowie die toten Kampfgefährten ihres Platoons. Später rettet sie den Jungen vor zwei Männern mit Holzkeulen und gibt ihm damit ein gutes Beispiel. Als Belvedere im Herbst einen Hundewelpen findet, tötet er ihn nicht, sondern pflegt ihn gesund, wie es seine `Mutter’ und die Helden in ihren Geschichten auch getan hätten.
Elizabeth Bears Kurzgeschichte ist in einem post-apokalyptischen Szenario angesiedelt und trotzdem völlig unspektakulär. Auf einem kurzen Stück Strand treffen sich ein Mensch und eine Maschine und beschwören die gesellschaftserhaltende Kraft von Märchen und Heldensagen. Die Grundkonstellation der Geschichte ist altbekannt (z. B.: "Nummer 5 lebt"), aber die Art und Weise, wie Bear sie erzählt, ist angenehm sentimental und berührt mich als Leser.
Ken MacLeod - Who’s Afraid of Wolf 359?
[4763 Wörter] [Erstveröffentlichung 2007 in der Anthologie The New Space Opera]
Diese Geschichte habe ichzweimal gelesen und bin doch ratlos, was sie uns mitteilen will ...
Der namenlose Ich-Erzähler wird zu Anfang in flagranti erwischt, als er ein Schäferstündchen hält mit der Konkubine des Herrschers einer Orbitalstation. Um die horrende Strafgebühr bezahlen zu können, nimmt er einen möglicherweise gefährlichen Job an: Er erklärt sich bereit nachzusehen, was mit der Kolonie Wolf 359 und ihren 10 Milliarden Bewohnern passiert ist, zu der vor einigen Jahren jeder Kontakt abbrach. Der Erzähler macht sich auf den Weg, verbringt die nächsten 50 Jahre im Kälteschlaf und findet am Zielort einen blauen Planeten vor, auf dem ihn eine große Überraschung erwartet, die zumindest mich als Leser nicht viel weiter gebracht hat.
Wie oben schon erwähnt, ist "Wolf 359" exakt 4763 Wörter lang, also vielleicht ein Dutzend Buchseiten. Das ist nicht viel. Ken MacLeod schafft es aber trotzdem, alles hinein zu packen, was man in einer traditionellen Space Opera erwarten kann: Künstliche Intelligenzen, kybernetisch veränderte Menschen, Unsterblichkeit, Cryotechnik, Raumfahrt, einen galaktischen Krieg und zwei klassische `Han-Solo-Szenen’. Will sagen: Diese Kurzgeschichte bietet genug Inhalt für einen Roman. Auf zwölf Buchseiten allerdings bleibt leider nur Raum für eine Szene, in der der Protagonist nackt vor einer wilden Hundemeute flüchtet, um schließlich entspannt mit einer jungen Juweliergeschäftsverkäuferin zu parlieren, und für einen ebenso humorvollen verbalen Schlagabtausch mit der K.I., die einige Zeit später sein Raumschiff lenkt. Davon abgesehen gibt es noch einigen ironisch verwendeten kapitalistischen Fachjargon sowie die Inhaltsangabe eines Romans ohne originelle Botschaft. What were you thinking, Mr MacLeod?
Mike Resnick - Distant Replay
[4176 Wörter] [Erstveröffentlichung April 2007 in Asimov's]
Walter Silverman ist 76 und seit sieben Jahren verwitwet, als er eines Tages in seinem Stammrestaurant eine schöne, junge Frau sieht, die äußerlich seiner verstorbenen Deirdre bis aufs Haar gleicht. Walter spricht sie an, und nach anfänglichem Zögern (Was will der alte Kerl von mir?) lässt sie sich auf ein Gespräch mit ihm ein. Walter erfährt, dass die Frau nicht nur ebenfalls Deirdre heißt, sondern auch sämtliche Gewohnheiten und Vorlieben mit dem Menschen teilt, mit dem er 45 Jahre seines Lebens verbracht hat. Am Ende dieses Gesprächs verabreden die zwei, sich fortan jede Woche an gleicher Stelle wiederzutreffen. Bald wird der alte Mann zu einem Freund, dem Deirdre vertraut. Walter wiederum kann nicht verstehen, warum es den fast identischen Menschen mehrmals auf der Welt geben kann. Ob Paare, die sich ein Leben lang geliebt haben, immer wieder geboren werden, um sich erneut zubegegnen? Aber das kann in seinem Fall unmöglich zutreffen, denn die junge Frau könnte seine Enkelin sein - und er selbst ist todkrank.
Schließlich erzählt Deirdre ihm, dass ihr Verlobter, den sie schätzt, aber nicht liebt, sie vor die Wahl gestellt hat: Entweder sie heirate ihn, oder es sei aus. Da endlich geht Walter ein Licht auf und es kommt zur ... Schlusspointe.
Während der Lektüre dachte ich über weite Strecken, es mit einer Cyberpunk-Geschichte zu tun zu haben, weil der Verfasser ein bekannter SF-Autor ist. Falsch gedacht. "Distant Replay" erwies sich letztlich als sentimentale Schmonzette von der Art, wie man sie jedes Jahr gleich im Dutzend im Fernsehen geboten bekommt. Ich hörte beim Lesen quasi die schluchzenden Geigen im Hintergrund. Schade nur, dass Mr. Resnick die Schlusspointe nicht noch mit 1000 weiteren Wörtern ausgemalt hat. Keine versierte Autorin trivialer Liebesgeschichten hätte ihre Leserschaft um diese kitschige Szene betrogen.
Michael Swanwick - A Small Room in Koboldtown
[4729 Wörter] [S. 249-62 des Episodenromans The Dragons of Babel; Ersterscheinung der Story April 2007 in Asimov's]
Diese Kurzgeschichte ist genau genommen ein Kapitel des Episodenromans The Dragons of Babel, der den Aufstieg des jungen Will le Fey aus dem gesellschaftlichen Nichts zum Herrscher des "Empire of the East" mit seiner Hauptstadt Babel beschreibt. Die Geschichte ist in derselben Alternativwelt angesiedelt, die Swanwick-Leser bereits aus dem Roman The Iron Dragon’s Daughter (dt.: Die Tochter des stählernen Drachen) kennen. John Clute hat Babel vor einigen Monaten in StrangeHorizons besprochen und zeigte sich sehr angetan. Mich interessiert an dieser Stelle erst einmal nur die für den Hugo Award nominierte Short Story, und, um es kurz zu sagen: Ich kann mich anhand der mir vorliegenden 13 Seiten des `Meisters’ Urteil nicht anschließen.
Will le Fey gehört zum Wahlkampfteam von Salem Toussaint, einem Politiker, der demnächst seinen Sitz im Stadtrat von Babel verteidigen muss. Diese Situation klingt erst einmal nicht phantastisch; sie wird es aber dadurch, dass Babel zwar einerseits offensichtlich eine Art Manhattan des frühen 20. Jahrhunderts ist, viele seiner Einwohner jedoch sich aus dem gesammelten Mythen-und Märchenschatz unseres Planeten rekrutieren. Salem Toussaint z. B. ist ein "Haint", ein Wort, das ich zwar nicht in meinem Wörterbuch gefunden habe, das aber wohl so viel wie Gespenst bedeuten soll. Als in seinem Wahlbezirk Koboldtown offenbar ein Boggart von einem anderen Haint ermordet wird, eilt Toussaint sogleich - mit Will im Schlepptau - werbewirksam zum Tatort, um dort nach dem Rechten zu sehen. Was sie vor Ort erwartet, ist der typische Mordfall-in-einem-von-innen-abgeschlossenen-Raum, der Krimifans seit Poes "The Murders in the Rue Morgue" immer wieder über den Weg läuft. Die Sache scheint eindeutig: In dem Mehrparteienhaus, wo die Tat geschah, lebt nur ein Haint - der durch Wände gehen kann -, und andere Gespenster wären nicht ungesehen am Concierge vorbeigekommen.
Will schaut sich den Fall aus der Nähe an und findet ziemlich schnell die Lösung. Tara! Und das war’s auch schon.
"Koboldtown" ist eine Urban Fantasy, die sich liest wie ein Krimi aus der hartgesottenen Schule. Würde man die Haints durch Afro-Amerikaner oder Puertoricaner ersetzen, hätte man immer noch fast die gleiche Story. Und ob Marlboros rauchende Cops nun Hörner haben oder nicht, macht auch keinen großen Unterschied. Das Locked-Room-Mystery andererseits sorgt schon deshalb nicht für Spannung, weil es sofort aufgelöst wird und wir Leser in Unkenntnis der magischen Regeln dieser Welt eh nicht mitraten können. Was am Ende bleibt und was man Swanwick zu Gute halten kann, ist sein ausgefeilter Stil. Er liebt es anscheinend, Chandler/Hammett/Macdonald so zu imitieren, dass das Ergebnis ein bisschen übertrieben, aber doch sehr amüsant ist. Fazit: eine nette kleine Fingerübung ohne tieferen Sinn.
Wer sollte gewinnen?
Der Hugo Award ist ein Preis, den alljährlich eine Gruppe von wenigen hundert Menschen vergibt, die bereit sind, mindestens 50 US-Dollar (Stand 2008) für ihr Stimmrecht zu zahlen. Im Gegensatz zu Preisen, die von einer Jury vergeben werden, sagt der Hugo also sicher mehr über die Popularität von SF&F-Texten aus denn über deren literarischen Wert. Nichtsdestoweniger finde ich, dass der literarische Gehalt (wie schwammig der Begriff auch sein mag) das Hauptkriterium bei meiner Entscheidung sein sollte. Eliminieren wir also gleich mal Mike Resnick, weil wir ansonsten jeden JULIA-Roman auszeichnen könnten, in dem wir den Namen der männlichen Hauptfigur flugs in Fred vom Jupiter geändert haben. Stephen Baxter scheidet aus, weil der Autor stilistisch nicht seinem Thema gewachsen ist. Ken MacLeod hat seiner Story zu wenige Wörter gegönnt, als dass sie ein Maß an Eigenständigkeit hätte gewinnen können. Das Gleiche könnte man über Michael Swanwick sagen. Meine Stimme geht also (rein virtuell) an Elizabeth Bear.
Wer wird gewinnen?
Mmh, da Connie Willis und Neil Gaiman nicht nominiert sind, ist das Rennen fast offen. Weder Baxter noch Resnick werden gewinnen, womöglich aber Michael Swanwick, der schon letztes Jahr mit einer sehr ähnlichen Story ("The Dog Said Bow-Wow") die Trophäe davontrug. Oder vielleicht doch Ken MacLeod für seinen Overkill an typischen SF-Versatzstücken? Oder doch Ms Bear?!
Wer hat gewonnen?
Elizabeth Bear - "Tideline"