Serie: Holly Finn, Band 1 Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Eigentlich könnte Holly Finn rundherum glücklich sein: Sie lebt mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in einer kleinen Stadt in Indiana, ihre Eltern lieben einander und ihre Kinder - und Holly hat neun Wochen Sommerferien, bevor sie im Herbst in die sechste Klasse kommt! Wenn da nicht zwei Probleme wären. Ihre Mutter Sylvia ist eine bekannte Kinderbuchautorin, die endlich einmal in Ruhe ihr neues Buch schreiben will. Darum zählt sie fest aufs Hollys Mitarbeit im Haushalt und bei der Beaufsichtigung des fünfjährigen Stevie, des jüngsten Mitglieds der Familie Finn. Und als wäre das nicht schon genug, hegt Holly seit dem Frühjahr einen furchtbaren Verdacht: Ihre 14-jährige Schwester Judith ist eine Hexe!
Die Indizienlage dafür ist in Hollys Augen völlig klar:
- Holly und Stevie hatten neulich Hautausschlag, Judith nicht;
- an Hollys Geburtstag stürmte es, an Judiths schien die Sonne;
- als in Chicago das Auto aufgebrochen wurde, stahlen die Diebe alles - außer Judiths Regenmantel;
- Holly hat Judith beobachtet, wie ihr im Bach neben dem Haus Kaulquappen einfach so auf die Hand schwommen, als sie ein düsteres Lied sang, ...
- ... das Judith im Übrigen bei der Witwe Tuggle gelernt hat, die oben auf dem einzigen Hügel des Ortes in einem alten Haus wohnt und Judith dort seit Monaten das Nähen beibringt. Ist Mrs Tuggle womöglich eine alte Hexe, die ihre Macht dadurch vergrößern will, dass sie mit Judith Finn einen Hexenzirkel gründet?
Holly muss ihr Geheimnis unbedingt mit jemandem teilen. Sie ruft ihre beste Freundin - Marjorie, genannt Mouse - an und bittet sie, sofort zu kommen, es gehe 'um Leben und Tod'. Mouse kennt die rege Phantasie ihrer Nachbarin und isst erst einmal ihr Frühstück zu Ende. Dann aber macht sie sich auf zum gemeinsamen Geheimplatz, zwei alten Gräbern auf dem Friedhof.
Die Geschichte ihrer Freundin nimmt Mouse ohne große Regung auf, zweifelt sie aber auch nicht an. Mouse hält sich für völlig rückgratlos und tut meist, was Holly möchte. Also erklärt sie sich bereit, das alte Buch mit dem Titel "Zaubersprüche und Zaubertränke" durchzulesen, das sie im Buchantiquariat ihres Vaters gesehen hat. In der nächsten Zeit erstattet Mouse regelmäßig darüber Bericht, was sie über die Praktiken von Hexen in Erfahrung gebracht hat. Je mehr Holly hört, desto beunruhigter wird sie. Schließlich hält sie es für an der Zeit, Mrs Tuggle auszuspionieren. Als Judith das nächste Mal zur Nähstunde geht, folgen Holly und Mouse ihr heimlich zu dem Haus auf dem Hügel. Sie schleichen sich auf einen Balkon, schauen in ein beleuchtetes Zimmer und sehen, wie Judith mehrere Nadeln in ein Nadelpüppchen steckt, das Mouse zum Verwechseln ähnlich sieht. Schockiert von diesem Anblick, flüchten die zwei Mädchen nach Hause. Am nächsten Tag muss Mouse das Bett hüten: Sie hat über Nacht furchtbare Bauchschmerzen bekommen. Von da an spitzen sich die Ereignisse zu. Bald scheinen überall neue Gefahren auf Holly und Mouse zu lauern. Oder lesen die zwei einfach zu viele schaurige Bücher?
Phyllis Reynolds Naylor hat seit 1965 dutzende Kinder- und Jugendbücher verfasst und gehört in den Vereinigten Staaten zu den bekanntesten Vertreterinnen ihres Faches. Hierzulande dürften vielen Kindern vor allem die Geschichten über Naylors Heldin Alice bekannt sein, die (ebenfalls im Loewe Verlag erschienen) sich realistisch mit den großen und kleinen Problemen eines heranwachsenden Mädchens befassen. Holly Finn im Haus der Schatten ist deshalb ein so interessantes und amüsantes Buch, weil seine Autorin bis zum Ende offen hält, ob Holly (im amerikanischen Original heißt sie übrigens Lynn Morley) vertrauenswürdig ist oder einfach spinnt. In letzterem Falle wäre einiges, was sie anstellt, nämlich ziemlich peinlich. Die Entscheidung fällt dem Leser nicht leicht; denn einige Indizien sprechen tatsächlich dafür, dass Mrs Tuggle eine Mörderin ist, die Klein-Stevie stehlen will. Andererseits können Hollys ständige innere Monologe ausgesprochen komisch sein, und sollte man wirklich einem Mädchen glauben, das laut über Teleportationen spekuliert und sorgsam darauf achtet, immer mit dem ganzen Fuß auf die Fugen zwischen zwei Pflastersteinen zu treten?
Naylors Roman gewinnt noch dadurch, dass ab und zu die typischen Unsicherheiten eines jungen Mädchens behandelt werden à la "Gott, was bin ich im Spiegel hässlich" oder "Warum habe ich keine Grübchen?" Daneben wird ausführlich beschrieben, welche Stimmungslagen zwischen euphorisch und am Boden zerstört eine Schriftstellerin (also Sylvia Finn) durchläuft, während sie um Ideen und mit der Schreibblockade ringt. Kurzum: Holly Finns erster Auftritt garantiert auch nicht mehr ganz jungen Lesern genauso intelligente wie kurzweilige Unterhaltung.
Warnung! Ab jetzt wird alles Mögliche über den Fortgang der Serie verraten. Wenn Sie das nicht wissen wollen, klicken Sie bitte hier!
Ich habe alle sechs Holly-Finn-Bücher schon einmal vor Jahren gelesen, und was ich bisher über Band 1 geschrieben habe, gibt meine Eindrücke während der ersten Lektüre wieder. Beim Wiederlesen fand ich das Buch ziemlich furchterregend. Ich weiß nicht, ob Phyllis Naylor ihre Serie von Anfang an auf sechs Bücher angelegt hatte oder nach dem Erfolg von Band 1 vor dem Problem stand, mit irgendetwas die Bände 2-6 füllen zu müssen. Auf jeden Fall beseitigt sie schon in Band 2 alle Unklarheiten: Holly ist nicht überdreht; alle ihre Vermutungen sind die reine Wahrheit. Mit diesem Wissen wird Holly Finn im Haus der Schatten zum Horrorroman, der auch (oder gerade?) Erwachsenen an die Nieren gehen kann. In den weiteren Büchern geht es zum Glück nur für die alte Tuggle um Leben und Tod. Phyllis Naylors Stil bleibt durchweg klar und ungemein lesbar, wie in allen Büchern, die ich von ihr kenne. Und spannend bleibt es bis zum Schluss - es wird allerdings nie wieder so amüsant wie bei der Erstlektüre von Holly Finn im Haus der Schatten.