Reihe: Wurdack-SF, Band 4 Eine Besprechung / Rezension von Alfred Kruse |
Die vierte Story-Sammlung des Wurdackschen SF-Programms, diesmal mit 21 deutschsprachigen Geschichten ebensovieler AutorInnen. Wie schon aus den Vorgänger-Bänden wurden auch hier viele Stories für die einschlägigen deutschen SF-Preise nominiert, was deutlich die hohe Qualität der Geschichten zeigt. Den Autoren wurde auch diesmal kein Thema vorgegeben, sodass auch in "Golem und Goethe" wieder die ganze Bandbreite der SF vertreten ist.
Stefan Wogawa: Golem und Goethe
Goethe ist ein Zeitreisender und trifft im 23. Jahrhundert auf ein Raumschiff mit einem durchgeknalltem Computer. Bemühte Story, der Sinn des Ganzen wurde mir nicht klar, ich fand sie einfach lächerlich.
Alex Wichert: Ball des Anstoßes
Bitterböser Kommentar zur Ausbeutung des Arbeitnehmers der Zukunft. Hat ein bisschen was von "Falling Down", sehr angenehme Lektüre. Bemerkenswert auch die vermittelte Stimmung: Die Story (der Autor ?) ist sich im Klaren darüber, nichts wirklich ändern zu können, dementsprechend sind auch die Aktionen und Gedanken der Protagonisten.
Bernhard Schneider: Interferenz
Über die verantwortungslose Besessenheit von Wissenschaftlern. Ein neuer Teilchenbeschleuniger lässt ein Wissenschaftler-Pärchen unabhängig voneinander durch verschiedene Paralleluniversen taumeln. Sehr unmittelbar und emotional, sehr eindringlich. Bemerkenswert der exakte (und korrekte !?!) naturwissenschaftliche Background, für mich als Physiker ein echter Genuss.
Arnold H. Bucher: Berechtigte Fragen
Eine amüsante Story über den Formularwahn unserer Gesellschaft, nicht bedeutend, aber sehr angenehme Lektüre.
Heidrun Jänchen: Echos
Auf der Suche nach Außerirdischen durchqueren die Menschen mit relativistischen Raumschiffen das All. Die Isolation lässt die Mannschaft nach einiger Zeit zusammenbrechen, dann simuliert der Computer zur Aufmunterung einen extraterrestischen Kontaktversuch. Die gesamte Story über scheint der Kontakt mit Aliens das zentrale Thema zu sein, die psychologischen Probleme der Besatzung nur eine Beschreibung des Weges. Erst am Ende stellt sich heraus, dass es genau umgekehrt ist. Eindringlich mit gelungener Pointe, ein erstes Highlight.
J. Th. Tanner: Trichterbecher wachsen
Im Garten der Scherberichs wachsen außerirdische Pflanzen, die auf Kontakt tödlich für Menschen sind. Langweilige Trivialstory, allerdings mit amüsanter und präziser Darstellung des Alltags von Otto Normalverbraucher und seinen Reaktionen.
Frank W. Haubold: Die Heilige Mutter des Lichts
Entwicklungshilfe auf einem Primitivplaneten mit teilweise fragwürdigen Mitteln, die aber der eingeborenen Rasse das Überleben ermöglichen. Sehr tiefsinnig, nachdenkens- und lesenswert, dabei stark geschrieben. Trotz des inhaltlich hohen Niveaus kommt keinerlei Langeweile auf. Ganz große SF, eine Zierde dieser Anthologie. Uwe Herrmann: Die Abteilung für kosmische Täuschungen
Die Erde als Teil der Sammlung paranoider Lebensformen im Aquarium Gottes. Sehr amüsant, recht innovativ, vielleicht an einigen Stellen etwas zu platt, ich habe die Story in jedem Fall genossen.
Petra Vennekohl: Kontrolle
Eine Minderheit von Ausgebildeten unterdrückt den Rest der Menschen. Als Begründung werden angebliche Gen-Veränderungen herangezogen. Kommt jemand hinter dieses Geheimnis, wird er umgebracht. Petra Vennekohl stellt sehr schön die Wirkung von Propaganda dar, wie man sie im realen Leben tagtäglich erfährt. Und pointiert beschreibt sie die Reaktionen der herrschenden Kaste auf die Aufdeckung ihrer Urban Legends. Lesenswert!
Axel Bicker: Der Schwamm
Die Geschichte des Versuchs einer Kontaktaufnahme mit einer Schwamm-Intelligenz aus der Sicht des minderbemittelten Kochs der Expedition. Sehr eindringlich, ziemlich spannend, am Ende fühle ich mich aber allein gelassen: Was wollte mir der Autor jetzt mit dieser Geschichte sagen?
Marlies Eifert: Weiße Elefanten
"Dass nicht sein kann, was nicht sein darf": Diese Managerweisheit bringt Marlies Eifert in ihrer Story plastisch rüber. Hier wird die Arroganz der herrschenden Kaste, die trotz gegenteiliger Realität an ihren (Vor-)Urteilen festhält, in herrlicher Art und Weise ad absurdum geführt. Ein Muss für Führungskräfte! Und ein Genuss für jeden Leser!
Edgar Güttge: Roda
Auf der Erde ist die "grüne Revolution" ausgebrochen, (fast) alle Tiere und Pflanzen sind intelligent. So kommt es, dass es bei dem Besuch einer außerirdischen Botschafterin zu einer Verwechslung mit einem nicht-intelligentem Säbelzahntiger kommt. Absurde Story mit allerlei komischen Situationen. Kein großer Tiefgang, aber trotzdem ein gelungenes Lesevergnügen.
Armin Möhle: Zwischenstop auf Prox
Wirre Geschichte über Schmuggler im Weltall, langweilig und konzeptlos.
Nina Horvath: Tod einer Puppe
Sinnlose Story über die Mediziner-Ausbildung in der Zukunft.
Alexander Kaiser: Redpointer
Ein klassischer Plot: Die Erde wird von außerirdischen Invasoren besetzt. Dem Autor gelingt es nicht nur, diesem abgelutschtem Thema etwas Neues zu entlocken, er stellt sogar in hervorragender Art und Weise eine Gandhi-Variante der Abwehr dieser Invasoren als echte Alternative zu den Hollywood-Ballereien dar. Dabei ist die Story trotzdem spannend, dicht geschrieben, voll mit Action, Heroismus und Explosionen. Sehr schön, einmal zu lesen, dass Gandhi und Action keine widersprüchlichen Konzepte sein müssen. Einer meiner Favoriten dieser Anthologie.
Olaf Trint: Hinaus in die freie Natur
Eine sehr amüsante Computerspielhasserstory. Olaf Trint gelingt es, die aktuelle Problematik des Viel-zu-lange-vor-dem-Bildschirm-Sitzens elegant zu extrapolieren und eine gelungene Geschichte darüber zu schreiben. Die leicht resignative Stimmung, die er dabei zum Leser transportiert, tut ein Übriges, um eben diesen Leser sensitiv gegenüber den Gefahren eines virtuellen Lebens zu machen. Ein stilles Highlight dieser Anthologie, eine gelungene Story, deren Qualität erst beim zweiten oder dritten Lesen offenbar wird.
Christian Savoy: ETA 7
Episodenhafte Space Opera, bei der es um ein von den Menschen ausgelöstes außerirdisches Signal geht. Obwohl gut geschrieben, bleibt mir die Sinnhaftigkeit dieser Story verborgen.
Melanie Metzenthin: Reproduktion
Eine sehr kurze Geschichte über das Mensch-Sein. Was unterscheidet einen Menschen von einer Maschine? Obwohl insgesamt nicht schlecht, enthält diese Story doch zuviel vom "erhobenen Zeigefinger", um wirklich zu gefallen, sie steuert auch zu bemüht auf die (voraussehbare) Pointe zu.
Thomas Kohlschmidt: Cinema Mentale
Menschliche Denkstrukturen werden auf einen Alien übertragen. Spannend und flüssig lesbar, das Ende aber enttäuscht: Was soll mir diese Story sagen?
Birgit Erwin: Die nach uns kommen
Eine postapokalyptische Geschichte. Birgit Erwin gelingen hier zwei pointierte Aussagen, die diese Story aus dem Standard hervorheben. Einerseits stellt sie deutlich dar, dass die Moral vor dem Fressen kommt, ja kommen muss, will man solche Katastrophen vermeiden. Zweitens lässt sie deutlich werden, dass nicht irgendwelche gesichtslosen Politiker oder ominöse Herrscherkasten Kriege entstehen lassen, sondern diejenigen, die sie physisch führen, die Soldaten, diejenigen, die sich solcher Unmoral nicht verweigern. Es wird deutlich dargestellt, dass genau (und eigentlich nur) diese Menschen die Schuld an globalen Katastrophen tragen und diese auch nicht auf irgendjemand abwälzen können. Diese Aussagen sind in einen klassischen Standard-Plot verpackt und werden still und leise zum Leser transportiert, wobei die Autorin geschickt moralinsaure Formulierungen vermeidet. Für mich ein ganz besonderes Lesevergnügen!
Armin Rößler: Der Gravo-Dom
Zum Abschluß wieder eine Geschichte aus den Fernen Welten von Armin Rößler. Er beschreibt den menschlichen Eingriff in ein exotisches Ökosystem. Man ist verzaubert von der Exotik, gebannt von der Geschichte und fasziniert vom Ende. Fast schon Standard für Armin Rößler ist die Kreativität des Settings, das auch in dieser Geschichte einen großen Teil der Faszination ausmacht. Ein schöner Ausklang der Anthologie, der Lust auf mehr macht.
Fazit: Und wieder gelingt eine Steigerung, die Kurzgeschichten aus "Golem und Goethe" sind nochmals besser als die des Vorgängers. Als würden sich Verlag, Herausgeber und Autoren gegenseitig zu neuen Höhepunkten anstacheln. Sehr interessant auch die Versuche der neuen deutschen Autoren, aus klassischen, altbekannten Plots doch noch etwas Neues herauszukitzeln - und angenehm überraschend die Erkenntnis, dass es ihnen in vielen Fällen auch tatsächlich gelingt.