Titel: Das Leben der Wünsche Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Eine Sekunde! Setzen wir uns auf die Bank vor diesem Brunnen! Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.
Meinen Sie mich?
Ich meine Sie.
Kann es sein, dass Sie mich verwechseln?
Sie heißen Jonas, sind fünfunddreißig Jahre alt, und ihre Frau heißt Helen.
Kennen wir uns von früher?
Sie haben zwei Söhne, Tom und Chris. Sie arbeiten bei der Werbeagentur Drei Schwestern. Ihre Mutter ist tot, Ihr Vater sechsundachtzig, er lebt nach einem Schlaganfall im Pflegeheim. Geschwister haben Sie keine. Seit einiger Zeit schlafen Sie mit Marie, deren Mann Apok heißt und mit dem sie ein Kind hat.
Sie sind ein Detektiv!
Ich bin etwas viel Besseres, sagte der Mann. Setzen wir uns!
Dies ist der Anfang von Thomas Glavinics neuem Roman, und diese Szene steckt den Rahmen für alles, was kommt.
Eines Tages wird Jonas im Park von einem schlecht rasierten Mann mit Goldkettchen und Sonnenbrille angesprochen, der ihm verkündet, er habe drei Wünsche frei. Natürlich glaubt Jonas dem Unbekannten nicht, trifft aber nach einigem Hin und Her die übliche Wahl: Er wolle erstens, dass künftig all seine Wünsche wahr werden. Auf zweitens und drittens könne er dann gut verzichten.
Der Mann gibt Jonas noch einige Erklärungen mit auf den Weg: Es gehe nicht darum, was Jonas wolle, sondern darum, was er sich wünsche. Außerdem solle er seinen Wünschen Zeit geben, sich zu entfalten, und: Er könne sich keine anderen Wünsche wünschen. Mit diesen Worten entschwindet der Unbekannte. Um wen es sich bei ihm handelt - die klassische Märchenfee? Gott? Mephistopheles? einen allmächtigen Außerirdischen? - darüber lässt sich Thomas Glavinic nicht aus, wohl weil es ihn einfach nicht interessiert.
„Das Leben der Wünsche“ ist die Beschreibung eines Wunschtraums in Romanlänge. Wir begleiten als Leser Jonas durch sein Alltagsleben. Wir beobachten ihn bei der ungeliebten Arbeit in einer Agentur, in der es von klischeehaften, drogensüchtigen Werbefuzzys nur so wimmelt. Wir sehen ihn zu Hause mit seinen kleinen Söhnen und der nicht mehr gar so innig geliebten Gattin, und wir lernen seine Geliebte kennen, die hinreißende Marie. Dabei bezieht das Buch auf den ersten 200 Seiten einen Großteil seiner Spannung aus den nahe liegenden Fragen, ob da jemand im Hintergrund die Fäden lenkt, ob und welche Geschehnisse durch Jonas beeinflusst werden und ob er wacht oder tagträumt. Er wäre schließlich nicht der erste Roman-/Filmheld, der eigentlich im Koma liegt oder sich durch eine virtuelle Realität bewegt.
Und Hinweise darauf gibt es tatsächlich. So hat der Protagonist Momente, in denen er sich selbst bei dem beobachtet, was er gerade vor fünf Sekunden getan hat; er durchsucht nachts ein Krankenhaus, in dem alle Räume leer sind; er verfolgt Schemen in Gewändern aus längst vergangenen Zeiten oder er findet sich plötzlich allein im Weltall treibend wieder. Darüber hinaus muss er bald annehmen, dass sich sein Leben tatsächlich nach seinen Wünschen richtet: Seine Aktien steigen, der zu klein geratene Sohn entwickelt sich zur Bohnenstange, die todkranke Ex-Freundin ist plötzlich wieder gesund, und seine Traumfrau Marie schwört ihm ewige Liebe und sagt ihm beim Sex Dinge wie er solle sie vollpumpen.
So weit, so gut. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Was wünscht sich z. B. sein Unterbewusstsein? Bald wollen nicht nur einerseits alle möglichen Frauen mit ihm schlafen, sondern es häufen sich auch die Todesfälle und Katastrophen in seiner Umgebung. Ein Flugzeug stürzt ebenso ab wie Seilbahngondeln, und Leute, die ihm im Weg sind, sterben. Zu den ersten Opfern gehört Helen, seine Ehefrau.
Jonas beginnt sich vor seinen Wünschen zu fürchten. Eigentlich fühlt er sich entfremdet von der Welt, in der er lebt. Was würde erst passieren, wenn er sich seinen destruktiven Empfindungen überließe? Schon jetzt gibt es Überschwemmungen, wo immer er sich aufhält. Und ein riesiger Meteorit nähert sich der Erde. Höchstwahrscheinlich wird er sie verfehlen, außer
Thomas Glavinic hat über weite Strecken einen typischen, realistischen Gegenwartsroman geschrieben - wenn man einmal davon absieht, dass die Handlung natürlich mit der Zeit immer unwahrscheinlicher wird. Das Buch ist in einfacher Sprache geschrieben, sehr lesbar und, wie oben schon erwähnt, über weite Strecken spannend. Erst im letzten Drittel, wenn man den Text ‚durchschaut’ zu haben glaubt und der Protagonist in paradiesische Mittelmeergefilde flüchtet, ist es hauptsächlich der Sex mit Marie, der das/mein Leserinteresse wach hält. Es geht nämlich in diesem Buch nicht eigentlich um Charaktere, sondern wirklich ‚nur’ um die Verzwicktheit unserer Psyche. Die wird von Thomas Glavinic lakonisch und mit großer Distanz zu seinem ‚Helden’ beleuchtet, aber nicht seziert. Nie kommen wir Jonas innerem Wesen viel näher als in dem Zitat Roberto Bolaíos, das Glavinic seinem Buch als Motto vorangestellt hat:
Ich nehme an, ich will sagen, dass Kafka begriff, dass Reisen, Sexualität und Bücher Wege sind, die nirgendwohin führen, auf die man sich aber dennoch begeben muss, um sich zu verirren und wieder zu finden oder um etwas zu finden, was auch immer, ein Buch, eine Geste, einen verlorenen Gegenstand, irgendetwas, vielleicht eine Methode, mit etwas Glück: das Neue, das, was immer schon da war.
Hm, habe ich das jetzt verstanden? Soll das bedeuten: Der Weg ist das Ziel, und Nachdenken ist nie falsch? Was auch immer - oder vielleicht doch nicht. Ich nehme von diesem Buch die alte Gewissheit mit, dass es in der Literatur immer auch um Eros und Thanatos - Liebe und Tod - geht und dass in unserem Innern nicht nur nette Gefühle wohnen. Und auch eine andere Erfahrung hat sich bestätigt: Phantastische Literatur hat ein enormes Potenzial, schöne Bilder zu erschaffen. Welcher 'Mainstream'-Roman kann schon mit einer Flutwelle prunken, aus der ein veritabler Öltanker gen Himmel ragt.
Noch ein Letztes: Die Hauptfigur des Romans kennen Glavinic-Leser bereits aus dem 2006 erschienenen Buch „Die Arbeit der Nacht“. Und dieses Werk beginnt so:
»Guten Morgen! « rief er in die Wohnküche.
Er trug das Frühstücksgeschirr zum Tisch, nebenbei drehte er den Fernseher auf. An Marie schickte er eine SMS. Gut geschlafen? Habe von dir geträumt. Dann festgestellt, daß ich wach war. I. l. d.
Der Bildschirm flimmerte. Er schaltete von ORF zu ARD. Kein Bild. Er zappte zu ZDF, RTL, 3sat, RAI: Flimmern. Der Wiener Lokalsender: Flimmern. CNN: Flimmern. Der französische, der türkische Sender: kein Empfang.
Bei seinem Erwachen muss Jonas eines Morgens feststellen, dass er womöglich der letzte Mensch auf Erden ist. Wie dieser Buchanfang mit „Das Leben der Wünsche“ in Übereinstimmung zu bringen ist, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich überhaupt nicht. Wahrscheinlich hat Glavinic einfach keinen Gedanken daran verschwendet, eine Serie mit durchgehender Handlung zu entwerfen.
Ach, falls ich es noch nicht gesagt habe: Man erfährt eigentlich nichts Neues in "Das Leben der Wünsche". Trotzdem eine kurzweilige Lektüre.