Reihe: Eine indirekte Fortsetzung erschien 2009 unter dem Originaltitel Ark (dt.: Die letzte Arche). Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
„’All things must pass. Even empires, and the faiths in which they were founded.’ That is a modest restatement of the great theme which underlies much British science fiction - the theme of evolution, mutability, the life and death of cherished hopes. It is a bittersweet note which runs from H.G. Wells’ scientific romances, through the cosmic fables of Olaf Stapledon, to the works of Clarke, Aldiss and Ballard “ [1]
Was tut man, wenn man als Rezensent einem Roman gleichgültig gegenübersteht, dem die meisten britischen Kommentatoren hohes Lob zollen? In meinem Fall führte das dazu, dass ich mir verschiedene Kritiken näher ansah und dann doch eine fand, die im Wesentlichen meine Einwände teilte - und klarer formulierte. Mein Hauptargument gegen Stephen Baxters Roman Die letzte Flut habe ich bei Graham Sleight (hier) entlehnt. Es hat viel mit der britischen Science-Fiction-Tradition zu tun und den Erwartungen, die der Leser typischerweise mit Katastrophenromanen einerseits und scientific romances andererseits verbindet. Dazu im Einzelnen später mehr. Zunächst lässt sich aber schon klar feststellen, dass wir es bei Flut nicht mit einer cosy catastrophe zu tun haben - was ein 1973 von Brian Aldiss [2] eingeführter Terminus für Romane ist, in denen die Welt ein ‚bisschen’ untergeht, um dann von zupackenden Menschen wieder aufgebaut zu werden.
Solch einen einfachen Ausweg hält sich Flut zu keinem Zeitpunkt offen. Die Romanhandlung setzt 2016 ein, in Barcelona. Nach fünf Jahren in der Gewalt einer katalanischen Terrorgruppe werden vier Menschen durch Intervention des Industriellen Nathan Lammockson aus ihrer Geiselhaft befreit: die amerikanische Hubschrauberpilotin Lily Brooke, der britische Offizier Piers Michaelmas, der Nasa-Wissenschaftler Gary Boyle sowie Helen Gray mit ihrem Baby Grace (Helen wurde von ihren Entführern vergewaltigt). Bei ihrer Rückkehr in die Zivilisation finden diese Menschen eine Welt im Umbruch vor, in der schon seit Jahren die Meere ansteigen. Lily (sicher die Hauptperson des Romans) erlebt bei ihrer Rückkehr nach London die Überflutung der Themse-Barriere und halb Londons mit und das ist erst der Anfang.
Ziemlich bald wird in diesem Roman klar, dass alle Landmassen der Erde zum Untergang im Meer verurteilt sind. Doch wie kann das passieren? Selbst wenn alles Eis der Antarktis schmölze, stiege der Meeresspiegel nur um wenige hundert Meter. Stephen Baxter greift für sein Werk auf - angeblich nicht völlig an den Haaren herbeigezogene - Denkmodelle zurück, denen zufolge im Erdmantel gigantische Wasservorkommen existieren. Als diese beginnen, erst langsam und dann immer schneller, in die Weltmeere zu ‚lecken’, steigt der Meeresspiegel unaufhaltsam. Es wird offensichtlich, dass die Tage der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, gezählt sind.
Gerade diesem Wissen um die Unabwendbarkeit - und der dadurch entstehenden Atmosphäre - verdankt Flut einen großen Teil seiner Wirkung. Baxters nüchterne, ausgesprochen distanzierte Erzählweise lässt nie die Hoffnung aufkommen, früher oder später werde schon ein begnadeter Wissenschaftler auf den Plan treten und die Welt retten. Dort, wo sein Roman funktioniert und den Leser berührt, tut er das, weil er die britische Tradition der scientific romance aufgreift und nutzbringend einsetzt. Seit den Zeiten H.G. Wells’ bürgerte sich dieser Begriff als Bezeichnung für die britische Zukunftserzählung ein. Als sich jedoch nach dem 2. Weltkrieg auch im Vereinigten Königreich die Gattungsbezeichnung ‚Science Fiction’ durchsetzte, nahm der Terminus ‚s. r.’ eine neue, abgewandelte Bedeutung an. Heutzutage bezeichnet man als scientific romances meist Geschichten
„ characterized by long evolutionary perspectives; by an absence of much sense of the frontier and a scarcity of pulp-magazine-derived hero who is designed to penetrate any frontier available; and in general by a tone moderately less hopeful about the future than that typical of genre sf until recent decades.“ [3]
In scientific romances vergeht tendenziell viel Zeit. Es gibt keine typisch amerikanische Can-Do-Mentalität, keine Helden und eigentlich überhaupt keine Charaktere. Graham Sleight sagt auf der oben verlinkten Seite sinngemäß, in scientific romances werde die Kamera auf spektakuläre Ereignisse gerichtet. Welche einzelnen Menschen mit ins Bild geraten, ist dabei zweitrangig. Genau hier scheint mir das Hauptproblem von Flut zu liegen: Dieser Roman kommt über weite Strecken wie ein Katastrophenroman daher und wird doch nur dann interessanter, wenn er der Tradition der scientific romance folgt. Stephen Baxter führt in Barcelona die meisten seiner Hauptpersonen ein und lässt sie versprechen, auch nach ihrer Befreiung immer für einander da zu sein. Dies ist die erzählerische Klammer, die fortan das Buch zusammenhält - leider aber auch nicht mehr. Der Buchanfang suggeriert dem Leser, er habe es mit einem Katastrophenroman zu tun, also der Art Werk, wo zuerst eine größere Schar Personen samt persönlichem Hintergrund eingeführt wird und diese dann jede Menge Freud, Leid, Abenteuer erleben, bei dem man als Leser mitfiebert - und -leidet. Flut allerdings macht Versprechungen, die es nicht einhält. Denn Stephen Baxter ist auch in diesem Buch Stephen Baxter, und das heißt: In diesem Roman treten keine Charaktere auf, die dem Leser in irgendeiner Weise nahe gehen. Es ist nicht so, als ob die Personen unsinnige oder unglaubwürdige Dinge täten. Ganz im Gegenteil: Baxter erweist ihnen eine Menge Respekt dadurch, dass er sie völlig realistisch skizziert. Nur füllt er sie nicht mit Leben. Dieses Buch deckt auf seinen 750 (reichlich dünn bedruckten, aber dadurch auch lesefreundlichen) Seiten (plus vier tollen Weltkarten) fast vierzig Jahre ab. Dabei verweilt es meist einige Dutzend Seiten bei einer Szene, um dann mehrere Jahre in die Zukunft zu springen. Bei solch einer Buchstruktur bleibt schwerlich Zeit für Charakterzeichnung, zumal wenn der Erzähler gleichzeitig noch den Verlauf der jüngsten Weltgeschichte referieren muss und Dialoge zwischen den handelnden Personen oft aus technischem Infodump bestehen. Ich erinnere mich an eine seltene Szene in der Mitte des Romans, in der ein dramatischer Streit in der Familie von Lily Brookes Schwester geschildert wurde. Diese Stelle ließ mich nicht nur gelangweilt zurück - ich fühlte mich richtiggehend belästigt: Was sollte das? Hatten Autor und Leser sich nicht längst stillschweigend geeinigt, dass die Personen hier nicht von Belang waren? Warum also Seifenopereinlagen?
Kehren wir darum einmal zu den großen Panoramabildern, den spektakulären ‚Kameraeinstellungen’ zurück. Vor allem diese sind es, die in den nicht wenigen positiven Rezensionen besonders gelobt werden.
Da wäre erstens der Untergang unserer Zivilisation: Stellen Sie sich vor, die Landmassen unseres Planeten versänken wirklich langsam im Meer. Was wäre die Folge? - Nun ja, höchstwahrscheinlich Lebensmittelknappheit, Massenmigration, Kriege um das verbliebene Land, der Zusammenbruch der Staaten und am Ende Kannibalismus. Genau, das passiert auch in Die letzte Flut, und zwar in aller Regel im ‚Off’' - zwei Menschen sitzen womöglich zusammen und reden darüber. Die meiste Zeit passiert also nichts Überraschendes. Höchstens hatte ich gelegentlich bei der Lektüre Aha-Erlebnisse, wenn Stephen Baxter sein Wissen ausbreitete. So reiste Gary Boyle in einer Szene in den Kaukasus, um zu beobachten, wie das ansteigende Schwarze Meer die Ebene zum Kaspischen Meer überfluten würde, und ich als Leser erfuhr, dass solch ein Prozess Jahre dauert. Man könnte also langsam vor der ‚Flutwelle’ herspazieren. Wirklich interessant. Genauso wie die Tatsache, dass in einer Million Jahre als letzte Relikte unserer Spezies noch die Unmengen Plastik über die Meere treiben werden, die wir heute schon nach dem Prinzip Nach mir die Sintflut produzieren und wegwerfen.
Der zweite, oft genannte Punkt sind die Katastrophenbilder. Der Unternehmer Lammockson baut in den Anden den Ozeanriesen Queen Mary nach und schippert damit anschließend durch die Welt (Stichworte: Arche und, natürlich, Anklänge an die biblische Sintflut). Wenn dieser Dampfer dann das versunkene London passiert, finden dieses Bild viele Leser sicher malerisch, faszinierend. Na, vielleicht, eigentlich wusste der Romantext aber nicht viel mit dieser Szenerie anzufangen.
Und so kommen wir zum Ende der Geschichte, die hier endlich durch ihre Scientific-romance-Eigenschaften punkten kann. In diesem letzten Teil vergeht die Zeit besonders schnell, die Lebensbedingungen ändern sich drastisch, die noch lebenden Protagonisten sind hochbetagt und um die Zukunft der Menscheit steht es eher schlecht. Die größte Hoffnung scheint da noch ein Sternenschiff, das die Vereinigten Staaten in ihren letzten Tagen ins Weltall schossen. An Bord das einstige Baby Grace Gray? Auch das wissen wir nicht mit letzter Sicherheit, da auch diese Entscheidung im ‚Off’ ablief. Genaueres erfährt der geneigte Leser vermutlich in Stephen Baxters Space-Opera-Fortsetzung Ark. Ich eher nicht, ich werde künftig wohl anderen Neigungen frönen.
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[1] David Pringle, Science Fiction: The 100 Best Novels. An English-Language Selection, 1949-1984, London 1985, S. 195.
[2] Aldiss bezeichnete damals in seinem Sekundärwerk The Billion-Year Spree den Autor John Wyndham als „master of cosy catastrophes“ und warf ihm vor, in seinen Romanen The Day of the Triffids bzw. When the Kraken Wakes behagliche Katastrophen entworfen zu haben.
[3] Brian Stableford, in: John Clute/Peter Nicholls (Hrsg.), The Encyclopedia of Science Fiction, 2. Auflage, S. 1076, London 1993.