Serie / Zyklus: ~ Besprechung / Rezension von Sascha Hallaschka |
Wozu einen solchen Megaklassiker rezensieren? Nun, ganz einfach: Die meisten Leute werden Jekyll und Hyde zwar kennen, ihn aber nicht gelesen haben! Sie werden irgendwann einmal eine der zahlreichen Verfilmungen gesehen haben und vielleicht glauben, damit sei das Thema erledigt. Doch weit gefehlt. Denn ob überhaupt irgendeine filmische Adaption diesem Werk gerecht werden kann, wagt der Verfasser dieser Zeilen nach dem Genuß (sic!) der Lektüre zu bezweifeln.
Henry Jekyll, ein englischer Naturwissenschaftler im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts, will mehr über die Doppelnatur des Menschen herausfinden. Er fragt sich, was passieren würde, wenn es möglich wäre, die gute und die schlechte Seite eines Menschen voneinander zu trennen. Seine Erkenntnis, die dieser Überlegung vorausgeht, ist die, dass ausnahmslos jeder Mensch eine solche Ambivalenz aufweist, ja, daß diese es erst ist, die den Menschen definiert und ihn zu dem macht, was er ist.
Jekyll braut eine Tinktur zusammen, nach deren "Genuß" er sich in Edward Hyde verwandelt, eine menschenähnliche Gestalt, für die sämtliche Moralkonventionen nicht gelten und die nur noch eine Seite des Menschen personifiziert: die dunkle, abgründige, böse.
Es kommt, wie es kommen muß: Jekyll wird gleichsam süchtig nach seiner Existenz als Hyde, die letztlich in einem Mord gipfelt. Und gerade, als Jekyll erkennt, in welche Gefahr er sich und seine Mitmenschen durch sein Experiment gebracht hat, wird ihm klar, daß es für eine Rückkehr bereits zu spät ist ...
Mehr muß man, denke ich, über den Inhalt nicht sagen. Erwähnenswert scheint noch die Tatsache, dass die eben genannten Zusammenhänge dem unvoreingenommenen Leser erst im letzten Kapitel der Novelle, "Henry Jekylls ausführliche Erklärung des Falls" betitelt, dargelegt werden. Bis zu jenem Zeitpunkt ist man auf Ahnungen und Vorausdeutungen angewiesen, die sich aus den Erzählungen von Jekylls Freunden Utterson und Lanyon ergeben.
Womit ich schon beim Kernproblem wäre: Den unvoreingenommenen Leser wird es nämlich kaum geben, da, wie eingangs erwähnt, jeder zumindest eine Verfilmung kennen dürfte und für ihn die Erklärung des Falles von Jekyll und Hyde keine Überraschung mehr darstellt. Dies ist schade, denn das letzte, das entscheidende, das beste Kapitel der Novelle ist unglaublich spannend, wenn man einmal versucht, sein Leservorwissen auszublenden - so wie ich es getan habe.
In Henry Jekylls großem Abschlußbericht werden alle im Laufe der Handlung ausgelegten Fäden sinnvoll und überzeugend verknüpft und zu einem logischen Ende gebracht. Fragen bleiben keine offen. Außer vielleicht der folgenden: Wie konnte Jekyll nur so dumm und vermessen, ja, wahnsinnig sein und sich selber in zwei Persönlichkeiten spalten wollen?!
Vermutlich ist es genau diese Frage, auf die Robert Louis Stevenson (1850 - 1894) mit Jekyll und Hyde abzielte. Das Thema seiner Novelle ist die Ambivalenz des Menschen und die Frage nach dem richtigen, dem menschlichen Umgang mit ihr.
Wie auch immer jeder einzelne diese Doppelnatur handhaben mag: Jekylls persönliche Vorgehensweise war und ist in jedem Falle falsch und gefährlich, weil widernatürlich. Er zahlt am Ende den Preis, der seinem Vergehen an der Natur des Menschen und somit auch an sich selber entspricht.
Jekyll und Hyde ist ein weiser Text, mit dem Stevenson der fundamentalen Ambivalenz des Menschen ein würdiges literarisches "Denkmal" gesetzt hat. Natürlich ist der Gedanke der Zweiseitigkeit nicht neu. Nur verdrängen auch wir Menschen von heute, die einhundert Jahre nach Stevenson leben, den Gedanken, daß jeder von uns nicht eins, sondern zwei Wesen ist, immer noch viel zu sehr.
Ich weiß nicht, wie viele Leute psychisch krank werden, weil sie ihre Doppelnatur leugnen oder gar bekämpfen. Stevenson weist uns den einzig gangbaren Weg: Es muß jeder auf seine individuelle Art und Weise lernen, damit zu leben. Die Alternative besteht im Scheitern an uns selbst. Diese Erkenntnis ist nicht platt, sondern richtig, und zwar auf der fundamentalsten Ebene menschlicher Existenz.
Ich möchte noch eine Anmerkung zu etwas machen, das mir bei der Lektüre von Jekyll und Hyde aufgefallen ist: Man muß sich der Tatsache bewußt sein, daß Henry Jekyll und Edward Hyde im Gegensatz zur landläufigen Meinung keine Gegensätze sind!
Zwar steht Hyde für das eine Extrem des Menschseins, nämlich das böse. Doch Jekyll personifiziert ja keineswegs das ausschließlich Gute. Er ist das Mischwesen aus gut und schlecht, das man gemeinhin einen "normalen Menschen" nennt. Ein wirkliches Gegengewicht zu Hyde, also ein ausnahmslos gutes Wesen (Man könnte es vielleicht "Light" nennen.), taucht in der Novelle nicht auf.
Und genau jenes Wesen hätte mich interessiert. Denn dass Jekyll irgendwann Angst vor einem bösen Wesen wie Hyde bekommen und nicht immer als dieser würde leben wollen und können, lag relativ nahe und überrascht nicht gerade. Wie aber hätte sich Jekyll als imaginärer "Mr. Light" gefühlt?
Wäre es für einen Menschen erträglich, immer und überall ausnahmslos gut zu sein? Diese Frage erscheint mir fast noch interessanter als der Umgang mit dem eigenen bösen Persönlichkeitsanteil.
Um die anfangs gestellte Frage nach der Verfilmbarkeit der Novelle noch einmal aufzugreifen: Ich halte es für schwierig bis unmöglich, den Text filmisch adäquat umzusetzen.
Zum einen bricht Stevenson ja mit der herkömmlichen Chronologie, weil das Schlußkapitel alle Geschehnisse von hinten aufrollt. Zum anderen dürfte es schwierig sein, Jekylls Reflexionen über die menschliche Ambivalenz, auf die er in seinem Abschlußbericht immer wieder rekurriert, in einem Film zu vermitteln.
Ich bin mir nicht sicher, ob zum Beispiel ein Monolog dem Zuschauer Jekylls Erkenntnisse und deren Gewichtigkeit nahebringen könnte. Dem Text gelingt dies relativ problemlos, weil er sich den dafür nötigen Platz nimmt. Nicht umsonst wird das letzte Kapitel ja auch eine "ausführliche" Erklärung genannt!
Jekyll und Hyde ist aufgrund der stetig steigenden Spannung, der furiosen Auflösung und seiner fundamentalen Weisheit ein Stück phantastischer Weltliteratur im wahrsten und besten Sinn des Wortes.
Fazit: 9 Punkte (von 10 möglichen)
(29.01.1998)
Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde - Rezension von Rupert Schwarz