Titel: Dondog Eine Besprechung / Rezension von Karsten Kruschel |
Selten war ein Buch so finster wie dieser dystopische Roman. Seine Hauptfigur Dondog kehrt nach Jahrzehnten, die er in irgendwelchen mysteriösen Lagern verbracht hat, in die Stadt zurück. Und diese Stadt besteht nur noch aus einer endlosen Anhäufung von Elendsquartieren. Krumme, labyrinthische Gänge verbinden stinkende, verrottete Wohnungen miteinander, Tageslicht gibt es kaum noch. Kriminalität und Gewalt herrschen. Wer die Betonwüste verläßt, erblickt keine Sonne und keine Sterne, sondern einen glühenden wolkenbedeckten Himmel, hinter dem irgendwo eine viel zu warme Sonne scheinen muß. Normales Wetter ist längst von Krieg und Unweltverschmutzung abgeschafft worden.
Dondog stolpert durch diese apokalyptische Welt, mit der sich alle irgendwie abgefunden haben, und erst nach und nach wird klar, daß Dondog eigentlich schon tot ist. Er hat es nur schamanistischer Zauberei oder irgendeiner Technologie zu verdanken, daß er sich noch bemüht, jene Leute umzubringen, deren Namen ihm noch – allerdings auch nicht immer – gegenwärtig sind. Er macht sie für all das Unglück verantwortlich. Worin dieses Unglück genau besteht, macht den Inhalt des bestürzenden Romans aus.
Dondog hat echte Probleme mit der Erinnerung. Oft kann er sich selbst an sich selbst nicht so richtig erinnern, und so kommt es immer wieder vor, daß in ein und demselben Satz von „ich“, „er“ und „Dondog“ die Rede ist. Und es könnte zwar sein, daß jeweils derselbe Mann gemeint ist – könnte aber auch anders sein. Bei den Erinnerungen an die Kindheit etwa, die von geheimnisvollen magnetischen Stürmen durchtobt und überschattet wird, springt die Stimme des Erzählers hin und her zwischen Dondog, seinem kleinen Bruder und einem anderen Jungen, der umgebracht wird und seinen Geist in Dondogs Kopf zwischenlagert. Identitätsprobleme beherrschen Dondog sein ganzes Leben.
Dieses Leben spielt sich ab in einem Land, das der Verfasser dem Leser vertraut beschreibt, um ihm jede Sicherheit über Zeit und Ort mit perfiden Details sogleich wieder zu entwinden. Kaum hat man Berlin – oder Paris – zwischen den Weltkriegen zu erkennen geglaubt, ermahnt Dondogs Mutter ihre kleinen Söhne, sich auf dem Schulweg nicht um die auf den Straßen herumliegenden Leichname zu kümmern, ganz als wäre das ein ganz normaler, alltäglicher Anblick. Kaum vermeint man hinter den Parolen von der Weltrevolution und der Drohung der allgegenwärtigen Lager ein Stalinismus-Gleichnis zu vermuten, praktizieren die Funktionärinnen plötzlich schamanistische Rituale. Ein danebengegangenes Schamanen-Ritual ist es auch, das dafür verantwortlich ist, wenn Leuten viele kleine Federn aus der Haut treten, wenn sie niesen müssen. Ähnlich rätselhaft ist die Sache mit den Ybüren, einer ethnischen Minderheit, die immer unterdrückt und schließlich ausgerottet wird. Zweimal. Dondogs Familie samt dem kleineren Bruder verschwindet bei der zweiten Vernichtung der Ybüren.
Die Vergangenheit ist nicht nur wegen Dondogs Problemen mit der Erinnerung merkwürdig vielschichtig, sondern auch weil die Geschehnisse nicht linear erzählt werden. Die Geschichte wird dem Leser dargeboten wie ein zersplittertes Glasfenster. Irgendein Überblick ist nur zu ahnen, wenn man nur die Splitter in einer ungeordneten Reihenfolge zu Gesicht bekommt. Überdies passen die Splitter auch gar nicht zusammen, sind die Verbindungen von einem Bild zum nächsten unsicher, Tote treten wieder auf, Leute wechseln ihren Namen, Täter werden zu Opfern und umgekehrt. Wie soll Dondog da seine Rache nehmen, wenn er sich nicht einmal mehr an den Namen einer Frau erinnert, die sich ihm vor einer Minute erst vorgestellt hat? Und wenn er nicht einmal mehr so recht weiß, wofür er sich rächen will?
Der unter dem absichtsvoll russisch klingenden Pseudonym Volodine schreibende französische Autor, dessen erste Texte unter dem Etikett SF erschienen, hat eine beklemmende und zugleich poetische Dystopie geschrieben, die in ihrer allumfassenden Ausweglosigkeit berühmte Vorbilder wie Kindergeschichten wirken läßt. Orwells Großer-Bruder-Welt sieht recht freundlich aus gegen Volodines Dondog-Welt. Düsterste Science Fiction, ganz ohne Raumschiffe und Außerirdische. Hier sind die Menschen selbst Aliens. Und jeder Mensch ist eine fremde Spezies für sich ganz allein.