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Was wäre, wenn die Dinosaurier nicht vor 65 Millionen Jahren ausgestorben wären? Wenn noch heute T-Rex und Triceratops über die Steppen des Planeten stampften? Harry Harrison stellte sich genau diese Frage Anfang der achtziger Jahre - und er kam zu dem Schluss, dass die Idee viel zu gut war, um sie in nur einem Roman zu verarbeiten. Zwischen 1984 und 1988 veröffentlichte er daher seine Eden-Trilogie, von der Diesseits von Eden der erste Band ist.
In Harrisons alternativer Realität entwickelten vor dreißig Millionen Jahren die Yilanè, Nachkommen des Tylosaurus, eine Hochkultur und breiteten sich bis in die Gegenwart über die gemäßigten und tropischen Klimaregionen Afrikas aus. Die Yilanè kann man sich äußerlich als knapp menschengroße, auf ihren Hinterbeinen gehende 'Echsen’ mit langem Schwanz und Rückenkamm vorstellen [als älterer Mensch jenseits der 40 fühlte ich mich an die Lurchi-Bücher meiner Kindheit erinnert]. Technologische Grundlage ihrer Kultur ist vor allem die Gentechnologie. Der Gebrauch von Metall ist fast unbekannt. Im Laufe der Jahrmillionen erfanden die Yilanè nicht nur verbesserte Tierrassen als Nahrungsquelle, sondern auch biologische Varianten von Dingen wie Kameras, Bildschirmen, Frachtschiffen und Schusswaffen: Schiffe sind in dieser Kultur gentechnisch veränderte Saurier oder Tintenfische; Giftpfeile werden mittels Druckluft aus mutierten Waranen verschossen.
Harrisons Saurier sind Kaltblüter, und diesem Detail ist es zu verdanken, dass auf der Erde in den schneeigen und arktischen Klimaten große Säugetiere ihre biologische Nische finden konnten. Es gibt Hirsche und Mastodons, Säbelzahntiger und - in Nordamerika - die Tanu, Menschen, die als steinzeitliche Nomaden das Land durchziehen und versuchen, irgendwie die Winter zu überstehen, denen sie nicht ausweichen können, weil ihnen im Süden T-Rex und Co. den Weg versperren.
Zum Erstkontakt zwischen Yilanè und Tanu kommt es indirekt als Folge einer einsetzenden Eiszeit. Eine nordafrikanische Yilanè-Stadt sieht sich gezwungen auszuwandern, weil die wachsende Kälte langsam ihre Lebensgrundlagen zerstört. Man entschließt sich, nach Übersee umzuziehen, und entsendet eine Vorhut an die Südspitze Floridas, die dort die neue Stadt Alpèasak errichten soll. Diesen Ort erreicht bald darauf auch eine menschliche Jägergruppe, die hier das Wild erlegen will, das ihre Nomadensippe braucht, um im Norden den nahenden Winter zu überleben. Die Menschen entdecken am Strand ein brütendes Yilanè-Männchen und seine Wächterinnen - und sie finden diesen Anblick so widerwärtig, dass sie alle Saurier töten und die Brut vernichten. Die Antwort der Yilanè erfolgt umgehend. Eine Kampfgruppe folgt heimlich den Menschen zu ihrem Sommerlager und massakriert die gesamte Sippe mitsamt ihrer Last-Mastodons. Das heißt, alle außer dem Jungen Kerrick, der als Forschungsobjekt mitgenommen wird und in der Folgezeit in Alpèasak aufwächst. Beide Seiten haben in diesen ersten Aufeinandertreffen in dem Unbekannten nur das Monströse, Minderwertige wahrgenommen und somit die Richtung für die nähere Zukunft festgelegt.
Kerrick wächst in den nächsten sieben Jahren zu einem Jugendlichen heran, der sich, um zu überleben, so sehr an die Yilanè assimiliert, dass er seine Kindheit vergisst. Das geht so weit, dass er auf die Menschen als dumme Säugetiere herabblickt. Er hat keine Probleme damit, dass seine neuen Herrinnen regelmäßig Strafexpeditionen gegen die `lebensunwerten’ Tanu führen - bis zu dem Tag, als er nach einem weiteren Massaker einen Gefangenen befragen soll und der ihn als Sohn seiner Schwester erkennt. Kerrick erinnert sich. Er tötet mehrere Wächter, verletzt seine Gönnerin Vaintè, die Vorsteherin von Alpèasak, und flüchtet mit dem Gefangenen. Damit beginnt der Krieg zwischen Kerrick und Vaintè, die nicht ruhen noch rasten will, bis auch der letzte Tanu getötet ist. Dieser Krieg beherrscht die zweite Hälfte des Romans und findet mit dem Ende des Buches nur einen vorläufigen Abschluss.
Wenn man Harrisons Roman durchblättert, fällt schnell die ungewöhnliche Sorgfalt auf, mit der das Buch entwickelt wurde. Jedes der etwa sechzig Kapitel beginnt mit einer schönen Illustration, die uns z.B. zeigt, wie wir uns die riesigen Wohnbäume der Yilanè vorzustellen haben, die Produkte gentechnischer Entwicklung oder die verschiedenen Saurierarten. Außerdem schließt an den eigentlichen Roman ein beinahe vierzigseitiger Anhang an, in dem alles Wichtige über Geschichte, Sprache und Kultur der beiden Hauptspezies erläutert wird. Als Harry Harrison damit begann, seine Eden-Trilogie zu schreiben, hatte er bereits ein Jahr lang "World-building" betrieben. Er hatte verschiedenerlei Wissenschaftler befragt - Biologen, Linguisten, Philosophen - und sich von ihnen eine Welt erschaffen lassen, in welche er erst dann eine Romanhandlung einfügte. Das kommt dem Buch sehr zugute. Zwar überzeugten mich bei der Lektüre nicht alle Aspekte der Yilanè-Kultur, aber ich fühlte mich doch mehrmals positiv an die Art Fabulierkunst erinnert, die in der Pulp-Ära Autoren wie Edgar Rice Burroughs oder Abraham Merritt auszeichnete.
Was Diesseits von Eden nicht bietet sind ausgearbeitete Charaktere. Nur drei Figuren ragen aus der Masse heraus. Zum einen ist da natürlich Kerrick, bei dessen Beschreibung zumindest beeindruckt, wie realistisch er sich an seine Entführer anpasst. Daneben treten von Zeit zu Zeit noch Vaintè bzw. ihre Brutschwester Enge in den Vordergrund. Vaintè ist fast maßlos ehrgeizig und geht über Leichen; davon abgesehen scheint sie keine Eigenschaften zu besitzen. Enge ist die Vertreterin der "Töchter des Lebens", der ersten Yilanè-Dissidentengruppe in dreißig Millionen Jahren. Diese "Töchter" haben eine Religion entwickelt, die alles Leben als lebenswert ansieht. Enge vertritt das Gute im Saurier und lässt vermuten, dass am Ende von Band 3 doch noch eine Art Aussöhnung zwischen den Spezies stehen wird. In einem Interview auf seiner eigenen Homepage bezeichnet Harry Harrison die "Töchter" als bierernste Nonnen. In diesem ersten Band erfüllen sie eine Funktion für die Handlung, nicht weniger und nicht mehr.
Ob man Harrisons Roman mag, hängt letztlich davon ab, ob man Feldzüge und Massaker spannend findet. Wie so oft in der Military SF oder Heroic Fantasy geht es in Diesseits von Eden um einen Krieg um alles oder nichts: "Wenn wir sie nicht töten, töten sie uns." In der Realität ist die Entscheidungslage aber meist viel unklarer. Ich weiß, wir alle (ich rede jetzt von uns Männern) haben Tagträume, in denen wir große kriegerische Heldentaten vollbringen, aber gerade dieses Heldenbild macht uns auch zu Kanonenfutter in Kriegen gegen Gegner, die wir - in Abenteuerromanen wie Diesseits von Eden - lernen, als absolut "böse" zu entmenschlichen.
Themenbereich "Parallel Welten"
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