Titel: Die Vampire Eine Rezension von Gloria Manderfeld |
London, viktorianisches Zeitalter: Das Verhängnis ist geschehen – im Kampf gegen den Vampirfürsten Graf Dracula haben Professor Van Helsing und seine Getreuen versagt! Und damit verändert sich die Welt, wie wir sie kennen, in eine düstere Vision dessen, was ein machthungriger Vampir auf der Höhe seiner Kraft alles anstellen kann. Dracula ehelicht die verwitwete Königin Victoria und fortan wird der Vampirismus zum alltäglichen Bestandteil des Lebens für die Menschen. Neugeborene streifen durch London und prägen das Bild auf verschiedenartigste Weise – die Vampirfähigkeiten jedes einzelnen entwickeln sich entsprechend seiner Abstammung, und gerade Draculas Brut hat unter teilweise entsetzlichen Auswirkungen zu leiden. Die Ältesten Europas wagen sich aus ihren Verstecken, und plötzlich gehört es zum guten Ton, sich im jungen Alter zu verwandeln, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben – in dieser Welt setzt der erste von den drei in diesem Sammelband zusammengefassten Bänden mit insgesamt knapp 1300 Seiten ein:
Anno Dracula (London, 1888)
Wer die englische Geschichte kennt, wird 1888 als das Jahr des Rippers identifizieren, und tatsächlich grassiert im London dieses Jahres die Angst vor Jack the Ripper, der sich ausschliesslich Vampir-Huren als Opfer sucht und diese fachgerecht ausweidet. Selbstredend ist die Obrigkeit von derlei Tun nicht besonders begeistert, und so erhält Charles Beauregard vom Diogenes-Club, einer geheimdienstartigen Organisation im Dienste Ihrer Majestät, den Auftrag, die Vorkommnisse aufzuklären. Neben Beauregard begleitet der Leser auch noch die Vampir-Älteste Genevieve Dieudonné, welche sich ein sehr hohes Maß an Menschlichkeit bewahrt hat und in Dr. Jack Sewards Vampir-Armenhospital in Whitechapel arbeitet. Nach und nach verdichtet sich das Geheimnis um Jack the Rippers Identität zu einem Geflecht unterschiedlichster Machtinteressen und Blickwinkel, die Charles und Genevieve in höchste Gefahr bringen...
Der rote Baron (Deutschland/Frankreich 1918)
Nachdem es in England gelungen ist, Dracula aus seiner Machtposition zu hebeln, hat er sich zum Deutschen Reich gewandt und Kaiser Wilhelm II. als Unterstützer gewonnen – dessen Träume von der Weltherrschaft werden von Dracula geschickt ausgenutzt, um sich selbst als wichtigsten Berater zu installieren. Durch die unbesiegbare Fliegerstaffel JG1 um den 'roten Baron' Manfred von Richthofen soll die alliierte Luftherrschaft gebrochen und dem Krieg eine entscheidende Wendung verschafft werden – was die Alliierten nicht ahnen, ist bereits grausige Realität: Durch genetische Experimente wurden von Richthofen und seine Staffel zu fledermausähnlichen, vampirischen Gestaltwandlern gemacht, die in der Luft unbesiegbar scheinen. Wieder liegt es an Charles Beauregardzu handeln, und als einer der Leiter des Diogenes-Clubs beauftragt er den jungen Edward Whintrop, sich unter die alliierten Flieger zu mischen und dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Auch Charles' Jugendfreundin Catherine Reed, eine vampirische Reporterin, verschlägt es als Kriegsberichterstatterin mit unstillbarer Neugierde an die Front – und recht bald wird sie tiefer in die Geschehnisse um die sich anbahnende Entscheidungsschlacht hineingezogen, als sie ahnen konnte …
Dracula Cha-cha-cha (Rom 1959)
Dracula ist nicht unterzukriegen und hat sich nun nach Italien gewandt, um dort unter großem Pomp die moldawische Prinzessin Asa Vajda zu heiraten, Zeitgenossen befürchten bereits, dass dies der Auftakt zur Schaffung eines Vampir-Staates auf dem Balkan sein könnte. Auch der gealterte Charles Beauregard und seine untote Geliebte Genevieve Dieudonné befinden sich in Rom, und abermals ist es Charles, der die Angelegenheit um Dracula soweit möglich im Auge zu halten versucht. Ausführender für alle Spionageaktionen ist der junge Geheimagent Hamish Bond, dessen Aufgabe durch die Aktionen des 'Scharlachroten Henkers', eines Vampirälteste mordenden Serienkillers, nicht gerade erleichtert werden. Von Charles' bevorstehendem, befürchtetem Tod herbeigelockt, stürzt auch Catharine Reed in den Strudel der Ereignisse und rückt unversehens in den Fokus der italienischen Ermittler, als sie bei der Ermordung eines Ältestens zufällig zugegen ist – und welche Macht zieht die Strippen des unheimlichen Mörders?
Wer sich Kim Newmans Vampir-Epos vornimmt, wird unversehens in eine Welt entführt, die der tatsächlichen Historie zwar recht fremd, aber nicht zu fremd ist – historisch verbriefte Ereignisse geschehen tatsächlich, doch werden sie aus anderen Blickwinkeln und durch andere Motivationen bestimmt geschildert. Gerade wenn man sich etwas mit englischen Romanfiguren und historischen Persönlichkeiten beschäftigt hat, werden einem beim lesen viele bekannte Gesichter begegnen – Inspector Lestrade, Mycroft Holmes, Professor Moriarty (und indirekt der in einem Konzentrationslager inhaftierte Sherlock Holmes) aus Arthur Conan Doyles Vorstellungswelt; Stevensons Dr. Jekyll; Bram Stokers weltberühmte Figuren aus der Dracula-Geschichte, Lucy Westenra, Dr. Seward, Lord Arthur, Godalming, Professor van Helsing, Mina Harker; Oscar Wilde; Lord Ruthven aus Polidoris Kurzgeschichte 'The Vampyre'; der Graf von Karnstein aus der bekannten Vampir-Geschichte mit weiblicher Protagonistin, 'Carmilla' und viele weitere, unter anderem auch Draculas verschiedene Erscheinungsformen aus Filmen ('Graf Orlock' aus 'Nosferatu').
Gerade der Hinweis auf Ian Flemings weltberühmten Spion James Bond durch die Figur Hamish Bond fügt mit hintergründigem, augenzwinkerndem Humor die literarische Kritik am Romanhelden Bond mit seinen wiedererkennbaren Vorlieben hinzu und lässt Hamish Bond genau an dessen bevorzugten Zigaretten- und Automarken als leicht auffindbaren Geheimagenten erscheinen, der so von seinen Gegnern auch prompt identifiziert wird. Die dem dritten Buch zugrunde liegende Geschichte der 'Drei Mütter' stellt eine Hommage an den italienischen Regisseur Dario Argento und seine filmische Trilogie „Suspiria“, „Horror Infernal' und „La terza madre' dar, die von drei mächtigen Hexen handelt, welche die Weltherrschaft anstreben.
Geschickt verknüpft Newman in seinem Epos so Fiktion und Wirklichkeit, und gestaltet diese Mischung aus tatsächlichen, bekannten und fiktiven Ereignissen zu einer Entdeckungsreise durch die 'etwas andere' Form von Geschichte, bei der keine Langeweile aufkommt. Gerade bei 'Anno Dracula' hält sich der Autor durch die eingeschobenen Tagebuch-Einträge John Sewards an die literarische Vorlage Stokers und fängt die Stimmung des Originals sehr gut mit ein, lässt die Handlungen und Ereignisse viel verständlicher erscheinen als bei einer bloßen Betrachtung von außen.
Die in allen drei Büchern zentrale Figur des Charles Beauregard, der als Beauftragter des Diogenes-Clubs Ermittlungen durchführt und im Verlauf der Rahmenhandlung letztendlich zum Leiter der Organisation wird, erhält eine umfassende Charakterisierung und eine vielschichtige, für den Leser nachvollziehbare Motivationslage, die in allen drei Bänden mal mehr, mal weniger beleuchtet wird. Seine sich entwickelnde Liebesgeschichte mit Genevieve Dieudonné, die als seine vampirische Begleiterin, aber auch emotionaler Gegenpart die langfristige Entwicklung eines Vampirs aufzeigt, erscheint allerdings gerade im ersten Band als etwas gewollt und konstruiert, gerade weil beide Charaktere als so herausragend dargestellt werden, ist es fast unausweichlich, dass sie voneinander fasziniert sind und schließlich zueinander finden.
Weitere wichtige Personen, die Charles' Lebensweg begleiten, sind seine ehemalige Verlobte Penelope Churchward, die sich einst Charles zum Gefallen zum Vampir verwandeln ließ und die er für Genevieve verlassen hat, und Catharine Reed, welche als junge Frau mit revolutionären Ansichten bereits im viktorianischen London als Journalistin arbeitete und dies auch als gewandelte Vampirin fortführt. Catharines Wege kreuzen die von Charles dabei nicht gerade zufällig – zum einen ist sie seit ihrer Jugend in ihn verliebt, zum anderen führen die Ereignisse um ihn zumeist zu einer interessanten Story, sodass sie ihm nur zu folgen braucht, um etwas passendes zu erfahren – was sie in 'Der rote Baron' letztendlich fast direkt an die Front bringt. Gerade durch Catherine und Penelope wird das Werden eines Vampirs vom unerfahrenen Neugeborenen zum selbstsichereren, sich seiner Fähigkeiten und seines Seins bewussteren Vampir deutlich, Newman schildert sowohl die Selbstbetrachtung Penelopes wie auch die Abgründe, in die Catherine in Rom gerät, sehr eindrücklich und anschaulich; auch die Charakterisierung vieler vollkommen verrohter, instinktgesteuerter Älteste mit den sagenhaftesten Fähigkeiten zeigt einen gelungenen Kontrapunkt einer möglichen Fortentwicklung auf, die für kaum jemanden erstrebenswert sein kann.
Dass Dracula in allen drei Büchern eher indirekt durch die Auswirkungen seines Handelns, denn durch direkte Auftritte erscheint, tut der Stimmung keinerlei Abbruch, sondern sorgt vielmehr für die Wahrung von Draculas geheimnisvollem Nimbus, den er bereits bei Stoker schon erhielt. Generell ist die Welt der Menschen und Vampire sehr vielschichtig und interessant dargestellt, sie erscheint in vielen Details glaubwürdig und bringt Ideen ein, die sich an die besonderen Bedürfnisse der Vampire anpassen (zB gesonderte, abgedunkelte Vampir-Abteile in Linienflugzeugen etc). Bis auf ausschweifende und damit langatmige Beschreibungen von Kampfhandlungen haben die drei Bücher kaum Längen und der Spannungsbogen wird gut gewahrt, sodass man einfach weiter lesen möchte.
Fazit: Gut recherchierte, vielschichte und epische Geschichte, die ein spannendes Dracula-Alternativuniversum bietet und Vampir- wie auch Geschichtsfans gleichermaßen unterhält. Neun von zehn möglichen Punkten.