Titel: Die Tiefen der Zeit Eine Besprechung / Rezension von Erik Schreiber |
DIE TIEFEN DER ZEIT ist eine Kurzgeschichten-Collection von 18 Science-Fiction-Erzählungen von Vernor Vinge. Jede der Erzählungen wird vom Autor selbst eingeleitet. Zwei dieser Erzählungen erscheinen exklusiv in der deutschen Ausgabe und waren in der amerikanischen Ausgabe nicht enthalten. Zwar wurden einige seiner Erzählungen in Deutschland bereits veröffentlicht, dürfen aber nicht in diesem Zusammenhang fehlen. Die älteste Erzählung stammt aus dem Jahr 1965, die jüngste aus 2003. Entgegen dem Titel haben die Kurzgeschichten nichts mit den vor kurzem erschienenen Romanen EIN FEUER AUF DER TIEFE und EINE TIEFE AM HIMMEL zu tun. Letzterer wurde sogar für den Kurd Laßwitz Preis vorgeschlagen.
Bücherwurm, lauf! - Bookworm, Run! (1966)
Die Vereinigten Staaten haben die Sowjetunion wirtschaftlich und militärisch weit hinter sich gelassen. Fusionselemente machen Kraftwerke überflüssig, sorgten aber für einen Wirtschaftskollaps. Dem Ostblock verweigert man diese Technologie, um ihn so niedrig zu halten und zu kontrollieren. Der Ostblock zerfällt jedoch, und die einstige Größe ist nicht mehr vorhanden. Die Anarchie dort sorgt aber gerade dafür, dass er nicht mehr unter Kontrolle zu halten ist.
Der eigentliche Handlungsstrang ist jedoch der mit dem Affen Norman. Zu Versuchszwecken wurde er an einen Computer angeschlossen. Mit einem Zugriff auf die Datenbank und der Hilfe des Computers entwickelt er sich zu einem Geistesriesen. Durch Zufall gelingt ihm der Zugriff auf geheime Daten. Der Schimpanse Norman flieht vom Testgelände und wendet viele Tipps und Tricks spannender SF- und Kriminalromane an. Er stellt bald fest, dass man ihn töten will, und sucht sein Heil in der Flucht, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs.
Vernor Vinge geht dazu über, den Über-Menschen als einen Schimpansen darzustellen. Damit sprengt er jede Selbstachtung des Lesers, zeigt, dass mit ein wenig mehr Wissen ein einfacher Primat zu mehr in der Lage ist als ein 'normaler' Mensch.
Der Mitarbeiter - The Accomplice (1967)
Howard Prentice hat eine neue computergestützte künstliche Lebensform geschaffen. Für diese benötigte er Rechenzeit, die er sich von dem neuen Supercomputer ausgeliehen hat. Diese siebzig Rechenstunden haben einen Wert von fast vier Millionen US-Dollar. Sein Chef und gleichzeitig bester Freund, Robert Royce, ist ziemlich sauer.
Vernor Vinge kam auf die Idee, mit einem Bildlesegerät Bilder einzulesen und von einem Computer bearbeiten zu lassen. Mit eben diesem Programm gelingt es seinem Computer, 'Leben' zu erschaffen. Damit nahm er im Jahr 1967 bereits Dinge vorweg, die mit der heutigen Technik durchaus möglich sind. Sein Blick in die Zukunft macht aus einer Geschichte eine wissenschaftliche Zukunftserzählung.
Wahre Namen - True Names (1981)
Dämonen sind im Cyberspace hervorstechende Persönlichkeiten, die das Netz glänzend beherrschen. Die Behörden enttarnen den Dämonen Mr. Slippery. Mit dem Wissen um seinen wirklichen Namen können die Behörden den Mann erpressen und zur Mitarbeit zwingen. Die meisten dieser Dämonen treiben nur Späße und Schabernack, doch der Dämon, der sich "Postbote" nennt, scheint politische Absichten zu verfolgen. Der Postbote hat anscheinend verschiedene Dämonen enttarnt, sie in der Wirklichkeit ermordet und im Cyberspace ihre Deckmäntel übernommen.
Der Autor greift damit die in den achtziger Jahren erfolgreiche Cyberpunk-SF auf. Seine Hackergeschichte greift auf die Avatare zurück, mit denen sich Menschen im Cyberspace bewegen können. In Ihnen liegt die Anonymität des Menschen.
Der Lehrling des Fahrenden Händlers - The Peddler’s Apprentice (1975)
Eine Weltregierung hält das Leben der Menschen auf einem Status Quo. Sie haben erkannt, dass die Menschheit ihre Zivilisationen in den Untergang geführt hat. So ist ein Zeitreisender immer eine Gefahr. Und so kommt es, dass ein Händler zur Gefahr wird. Er wird in die Auseinandersetzung zwischen Graf Fürneham I. von Füffen und Hollerich Haifischzahn gezogen. Fürneham hofft, mit der Magie des Händlers eine Entscheidung zu seinen Gunsten herbeirufen zu können.
Der Autor zeigt in dieser Erzählung, die er mit seiner damaligen Frau Joan D. Vinge schrieb, die Eigensinnigkeit des Menschen auf. Er zeigt gleichzeitig, dass der Mensch sich nicht ändern lässt.
Die Unregierten - The Ungoverned (1985)
Vier Jahre vor dem Mauerfall in Europa wirft Vernor Vinge die Menschheit in einen Atomkrieg. Die USA sind nur noch eine in zahllose Kleinstaaten zerfallene Gesamtheit. Mafiaähnliche Strukturen treten als Sicherheitsdienste auf, um die Bevölkerung zu unterjochen. Andere Kleinstaaten versuchen, herrenlose Gebiete oder solche, die dafür gehalten werden, zu erobern.
Der Autor zeigt uns hier ein Beispiel der übereifrigen amerikanischen Bevölkerung. Jeder ist bis an die Zähne bewaffnet und wird damit zu einem negativen Beispiel der heutigen Waffen-Kultur, wenn man es so nennen will, der US-Amerikaner. Waffenhändler verkaufen an den Meistbietenden, was sie in den alten Depots der Armee finden. An die Stelle von Mächten treten einzelne Personen. Die Vision des Autors einer Gesellschaft bleibt nur so lange bestehen, wie in der Erzählung ein gewisses Gleichgewicht bestehen bleibt. Mit jedem Schritt, den seine Handlungsträger machen, verflüchtigt sich die Vision, und übrig bleibt ein literarischer Albtraum. Vernor Vinge spricht eine sehr moderne Furcht an. Heute fühlt man sich doch bereits bedroht, sollte ein Staat wie der Iran, Pakistan oder andere in den Besitz solcher Waffen geraten.
Weitschuss - Long Shot (1972)
Ilse ist eine künstliche Intelligenz, die in der Raumsonde auf dem Weg zum Alpha-Centauri-System ist. Unterwegs fällt die Funkverbindung zur Erde aus. Die künstliche Intelligenz fliegt weiter, muss aber mit Systemausfällen kämpfen, die sogar so weit gehen, dass ihr Speicher verloren geht. Mit dem Verlust des Speichers verliert sie auch das Wissen darüber, was sie überhaupt im Alpha-Centauri-System soll.
Der Autor berichtet aus der Sicht der künstlichen Intelligenz, die wieder versucht, ihr Ziel zu erfahren und damit auch die entsprechende Aufgabe herauszufinden. Aus diesem Grund bleibt die Aufgabe der Sonde bis zum letzten Augenblick auch für den Leser ein Geheimnis.
Absonderung - Apartness (1965)
Wieder einmal ist der Hintergrund der Handlung ein Atomkrieg. Eine südamerikanische Expedition findet auf einer einsamen Antarktisinsel eine bis dahin unbekannte Menschenansammlung vor. Dieser Stamm setzt sich gegen die Entdecker zur Wehr. Auf dieser Insel wurden aber auch zwei Schiffswracks gefunden, die im Zusammenhang mit der Vertreibung der Weißen aus Afrika stehen.
Eine Art wiedergutmachender Rassismus. Was vorher die Weißen mit ihrer Apartheid waren, sind nun die Zulus, hier Zulunder genannt, die in einer Häme-Reaktion das Gleiche durchziehen.
Kampflose Eroberung - Conquest by Default (1968)
Ron Melmwn ist Anthropologe und lebt auf dem verseuchten Kontinent Australien. Als Mitglied des Pwrlyg-Konsortiums plant er, die verseuchten Zonen der Erde zu besiedeln. Den Menschen gegenüber ist er freundlich. Während auf seiner Seite die Stimmen laut werden, die restliche Menschheit auszurotten, ist ein Teil der Menschheit damit beschäftigt, Terroranschläge auszuüben. Ron will herausfinden, warum die Menschen gegen ihn und die Aliengesellschaft rebellieren.
Der Traum von einem multikulturellen Neben- und Miteinander verknüpft der Autor mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit des Terrorismus. Die 68er-Generation im Kampf gegen die USA, deren Kampf gegen den Vietnamkrieg sowie der Einsatz für die Indianer in den amerikanischen Reservaten ist ein Hintergrund der Erzählung. Ein anderer Teil ist die Ausrottung des Menschen um seiner Selbst Willen.
Diese Erzählung gehört für mich persönlich zu einem der Glanzlichter der Sammlung. Er beschreibt hier kurz und bündig, wie man auch ohne Gewalt eine Kultur ausrotten kann. Wie eben die Eingeborenen Nordamerikas.
Die Tiefen der Zeit - The Whirligig of Time (1974)
Wieder ein Atomkrieg. Das Thema war in der Zeit zwischen 1965 und 1975 immer wieder Thema von Erzählungen aller Art. Daher verwundert es nicht, dass Vernor Vinge den Atomkrieg zu einem seiner zentralen Themen werden lässt. Es entstand diesmal ein Kaiserreich der Menschheit, welches sich inzwischen über das komplette Sonnensystem ausbreitete. Die Vergangenheit wird gezielt unterdrückt. Die Kurzgeschichte ist ein Text, der vor Klischees trieft. Scheinbar auch für den Autoren selbst ein wenig peinlich, da weder Vorwort noch Nachwort ergiebige Informationen enthalten.
Spiel mit dem Schrecken - Bomb Scare (1970)
Das Volk der Dorvik ist eine sehr fortschrittliche fremde Rasse, die in der Art eines Tartarenvolkes lebt. Die erobernde Rasse duldet keine Völker neben sich. Entweder wird die andere Rasse unterworfen oder ausgerottet. Mit riesigen Schlachtschiffen durchstreifen sie den Weltraum. Die Menschheit mit ihrem abgelegenen Sonnensystem ist garantiert kein Gegner für die Dorvik. Aber die Menschheit kann sich wehren. Allerdings gibt es noch eine dritte Gruppe. Ausgerechnet Kinder in einem kleinen Raumschiff bedrohen Menschen und Dorvik gleichermaßen. Die humorvolle Geschichte mit den bösen Aliens und den jugendlichen Helden, die die Aliens aufmischen, gefällt mir sehr. Zumindest bis zu dem Augenblick, als Mama kommt...
Die Wissenschaftsmesse - Science Fair (1971)
Leandru ist ein erfolgreicher Industriespion, der von der Tochter eines Wissenschaftlers angefleht wird, ihren Vater zu beschützen. Was zuerst nur als einfache Arbeit angesehen wird, stellt sich alsbald als bahnbrechende Erfindung dar. Es geht um die lebensfeindliche Dunkelwelt des ewigen Eises, in der die in Industrie-Clans lebenden Wesen leben. Die Clans arbeiten nicht etwa miteinander, sondern gegeneinander. Die Erfindung des Wissenschaftlers kann aber nur erfolgreich sein, wenn alle gemeinsam daran mitarbeiten. Gleichzeitig spielt Vernor auf die Umweltverschmutzung der Menschheit an. Diese kann auch nur in gemeinsamer Arbeit beseitigt werden.
Edelstein - Gemstone (1971)
Sanda verbringt den Sommer bei ihrer Großmutter. Aber der Urlaub ist äußerst langweilig. Zumindest bis zu dem Moment, als Sanda den seltsamen Edelstein findet. Er frisst Plastikblumen und spuckt dafür Edelsteine aus. Dadurch wird die Großmutter natürlich steinreich, im wahrsten Sinn des Wortes. Das zieht natürlich zwielichtiges Gesindel an, das seine Überraschung erlebt.
Den Reiz der Geschichte macht wahrscheinlich aus, dass man als Leser nicht sagen kann, wohin sie führt. SF, Horror oder eine ungenannte Mischung davon.
Gerechter Frieden - Just Peace (1971)
Auf dem krisengeschüttelten Planeten kämpfen zwei Parteien nicht nur bis aufs Blut, sondern auch bis fast zur totalen Selbstvernichtung. Der Botschafter der Erde sieht kein anderes Mittel, als beide Seiten so lange zu drangsalieren, bis sie sich zusammenschließen und ihn bzw. die Erde als gemeinsamen Feind ansehen.
Gemeinsam mit William Rupp geschrieben, wird hier wieder das alte Mittel angewendet. Zwei Feinde kann man nur einen, wenn ein dritter auftaucht.
Mit der Sünde geboren - Original Sin (1972)
Die Shimaner sind eine äußerst kurzlebige, dafür logisch denkende Rasse. Als die Menschen auf sie treffen, sind die Shimaner noch irgendwo in der Steinzeit; sie lernen aber schnell und sind den Menschen bald überlegen. Eine Gemeinsamkeit mit den Menschen ist die Suche nach der Unsterblichkeit, vor allem deshalb, weil die Shimaner nur 25 Monate leben. Bei ihnen geht alles schneller.
In dieser Erzählung dreht Vernor Vinge seinen Erzählspieß um. Aus den überlegenen Fremdrassen sind plötzlich die eher unterlegenen geworden. Doch auf diese Seite der Erkenntnis dürfen sich die Menschen nicht ausruhen. Sie könnten überholt werden.
Die Plapperin - The Blabber (1988)
Die Erzählung spielt in der Welt von EIN FEUER AUF DER TIEFE und EINE TIEFE AM HIMMEL. Rein theoretisch könnte man diese Erzählung als eine Erweiterung oder Ergänzung zu den beiden Romanen ansehen. Allerdings ist sie, ohne die beiden oder zumindest einen der Romane zu kennen, nicht lesbar. Ein unbedarfter Leser ist nicht in der Lage, dem Autor in seiner Welt zu folgen.
Gewinne einen Nobelpreis! - Win a Nobel Prize! (2000)
Die in einer Art E-mail verfasste Erzählung berichtet über neue Technologie. Geschrieben wurde sie für die Zeitschrift NATURE, wo wöchentlich eine SF-Kurzgeschichte erschien.
Die Barbarenprinzessin - The Barbarian Princess (1986)
Der Verleger Rey Guille reist mit seiner Mannschaft und seinem Schiff über die Meere, von Archipel zu Archipel. Dabei schreibt er über die Hrala, eine phantastisch gut aussehende Barbarenprinzessin. Eines Tages bringt man ihm eine echte Barbarenprinzessin, die zwar wenig mit dem Aussehen seiner Romanfigur hat, aber doch gewisse Ähnlichkeiten besitzt.
Bei dieser Erzählung denkt man bald schon an RED SONJA von Robert E. Howard oder an die schwarze Piratin bei CONAN. In Wirklichkeit haben sie aber wenig Gemeinsamkeiten.
Das Cookie-Monster - The Cookie Monster (2003)
Wieder eine Erzählung zum Thema Künstliche Intelligenz. Nach dieser Geschichte ist erst einmal Schluss mit Lustig. Nichts gegen den Autoren, aber nach einer gewissen Menge von ihm ist man doch froh, das Buch aus der Hand legen zu können. Er versucht in seinen Geschichten zum Teil glaubwürdige Aussichten auf mögliche Zukunftsentwicklungen zu liefern. Bei ihm stehen daher mehr die Ideen im Mittelpunkt einer Erzählung, weniger die Ausführung und der erfolgreiche Abschluss. Neben der Technikfreundlichkeit liebt er es zudem, gesellschaftliche Modelle zu entwickeln und den Leser damit zu konfrontieren. Leider ist es dann immer wieder der Atomkrieg, der der Auslöser für eine neue Gesellschaftsform ist. Vinge beweist mit dieser Sammlung, wie vielseitig er ist, welche Ideen ihn beherrschen und dass er die gern weitervermittelt.