Titel: Die Straße (2007) Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Jahre nach einem verheerenden Atomkrieg herrscht auf der Erde der nukleare Winter: Die Pflanzen sind abgestorben, Bäume nur noch schwarze Gerippe. Das Sonnenlicht vermag die Aschewolken am Himmel kaum zu durchdringen. Alle bunten Farben sind ebenso aus der Welt verschwunden wie die Wirbeltiere. Die haben die Menschen ausgerottet - und als es nichts mehr zu jagen gab, begann auch für unsere Spezies das große Sterben.
Wenn die Romanhandlung einsetzt, ist die Erde fast menschenleer. Zu den wenigen Überlebenden gehören ein namenloser Vater und sein Sohn auf dem Weg nach Süden, auf der Suche nach einem wärmeren Klima - und einem Heim für das Kind. Der Mann ist krank und spuckt regelmäßig Blut. Er ahnt, dass ihm nur noch eine begrenzte Zeitspanne bleibt, um Beschützer für den Jungen zu finden, der in diese post-apokalyptische Welt hineingeboren wurde, kurz nachdem die Zivilisation für immer untergegangen war.
Tagein tagaus schiebt der Mann einen mit ihren wenigen Habseligkeiten beladenen Einkaufswagen über die kalten Highways der USA, immer auf der Suche nach Essbarem und in Furcht vor marodierenden Banden, die mangels anderer Nahrung zu Menschenfressern geworden sind. Der Mann besitzt für seine Pistole zuerst noch zwei, später eine Kugel, die er sich für den Fall aufspart, dass er sein Kind eines Tages nicht mehr wird beschützen können. Auf ihrer monatelangen Wanderung treten Vater und Sohn kaum in Kontakt mit Menschen: Jeder könnte ein Kannibale sein oder ihnen ihre Vorräte stehlen wollen.
Es wird nie genau gesagt, wie ihre Reiseroute verläuft. Am wahrscheinlichsten schien es mir (sowie z.B. dem englischen Wikipedia-Autor und Ulrich Greiner in der ZEIT), dass sich die zwei zu Beginn in Kentucky oder Tennessee befinden, dann die Appalachen überqueren und sich auf die südöstliche Küste zu bewegen. Von Bedeutung ist das aber nicht. Von Bedeutung ist die innige Beziehung zwischen dem Mann und dem Kind, die "jeder die ganze Welt des anderen" sind (S. 9). Ihre Geschichte beobachten wir als Leser durch die Augen des Mannes, und Cormac McCarthy erzählt sie uns in einer kargen, knappen Prosa, in Sätzen, die meist ohne Gliedsätze - und häufig auch ohne Verb - auskommen. Drei der sechs Rezensionen, die ich zu seinem Roman gelesen habe, zitieren die folgende Passage aus der Mitte des Buchs, um einen atmosphärischen Eindruck zu vermitteln:
"Sie traten auf die kleine Lichtung, der Junge an seine Hand geklammert. Bis auf das schwarze Ding, das über der Glut auf einem Spieß steckte, hatten die Leute alles mitgenommen. Er stand da und schaute prüfend in die Runde, als der Junge sich zu ihm umdrehte und das Gesicht an seinem Körper vergrub. Mit raschem Blick versuchte er festzustellen, was passiert war. Was ist denn?, fragte er. Was ist denn? Der Junge schüttelte den Kopf. O Papa, sagte er. Der Mann sah genauer hin. Was der Junge gesehen hatte, war der verkohlte Leib eines Kleinkindes, ohne Kopf, ausgeweidet und auf dem Spieß langsam schwärzer werdend. Er bückte sich, nahm den Jungen auf den Arm und lief, während er ihn fest an sich drückte, in Richtung Straße los. Es tut mir leid, flüsterte er. Es tut mir leid."
Die Straße ist ein wunderbarer wie schrecklicher Roman, die Sorte Buch, bei der man auf jeder Seite mit den Protagonisten mitzittert und die man sich nur einmal im Jahr antun möchte. Unterwegs entdeckt der Mann einmal im Garten eines Hauses einen unbenutzten Atombunker, voll mit allen Konsumgütern unserer Welt: von Kaffee bis Whiskey, von Bacon & Eggs bis zur funktionierenden Toilette. Einige Tage gönnen die zwei Wanderer sich (und uns Lesern) eine Verschnaufpause, bis die Angst vor Entdeckung sie weitertreibt.
Jede Kritik zu Die Straße muss auch auf die religösen Untertöne des Buches eingehen. Gleich auf Seite 8 sagt der Mann einmal über seinen kleinen Sohn: "Wenn er nicht das Wort Gottes ist, hat Gott nie gesprochen." Das Kind wurde in eine sterbende Welt hineingeboren. In den Jahren danach führte der Mann hunderte Diskussionen mit seiner Frau über den Sinn und Unsinn des Wunsches, weiter leben zu wollen. Bevor sie letztlich ihre Familie verließ, um sich umzubringen, gab die Frau, der kein Glaube (mehr) Trost spenden konnte, ihrem Gatten die Worte mit:
"Allein wirst du nicht überleben. Das weiß ich, weil ich allein nie so weit gekommen wäre. Ein Mensch, der niemanden hat, wäre gut beraten, sich irgendeinen passablen Geist zusammenzuschustern. Ihm Leben einzuhauchen und ihn mit Worten von Liebe bei der Stange zu halten. Ihm jede Phantomkrume anzubieten und ihn mit dem eigenen Körper zu beschützen. Was mich angeht, hoffe ich nur auf das ewige Nichts, und das von ganzem Herzen." [S. 54]
Der Vater ist offenbar diesem Rat gefolgt. Er hält sein Kind für den kommenden Erlöser und überhöht die Bedeutung ihrer Reise gen Süden religiös. Dadurch findet er die Kraft, immer weiterzumachen, selbst als er schon beinahe zum Skelett abgemagert ist.
Das Thema Religion lässt sich auch in Struktur wie Inhalt des Romans nachweisen: Zum einen gibt es zahlreiche Dialoge wie den folgenden:
Er blieb stehen und blickte sich zu dem Jungen um. Der Junge blieb stehen und wartete.
Du glaubst, wir müssen sterben, stimmt's?
Ich weiß nicht.
Wir werden nicht sterben.
Okay.
Aber du glaubst mir nicht.
Ich weiß nicht. (...)
Er musterte ihn. Wie er da stand, die Hände in den Taschen des übergroßen Nadelstreifenjacketts.
Glaubst du, ich belüge dich?
Nein.
Aber was das Sterben angeht, glaubst du, dass ich vielleicht schon lüge.
Ja.
Okay. Vielleicht tue ich das ja auch. Aber wir werden nicht sterben.
Okay. [S.91-93]
Einem Kritiker erschienen diese sprachlich schlichten Gespräche als in ähnlicher Weise aus Stein herausgemeißelt wie biblische Gesetzestafeln, einem anderen kam das regelmäßige "Okay" am Ende der Dialoge wie ein "Amen" zum Gebetsschluss vor.
Was den Inhalt anbetrifft, gibt es eine Szene, in der Mann und Kind auf einen Greis namens Ely treffen. Wie in anderen Situationen auch ist es hier das `reine’, `unschuldige’ Kind, das dem Vater hilft, seine Menschlichkeit ein Stück zu bewahren, indem es ihn drängt, dem Alten zu essen zu geben und ihn an ihrem Feuer sitzen zu lassen. Zum besseren Verständnis dieser Szene erklärt der Kritiker der SZ: "Nach alttestamentarischer Vorstellung sollte der Prophet Elias wiederkommen, um vor dem Ende der Welt als Letzter zur Umkehr zu rufen. In christlicher Deutung wird er als Vorbereiter des Messias angesehen." In diesen Bahnen denkt offenbar auch der Vater. Auf seine bohrenden Fragen reagiert der Greis aber nur mit der Bemerkung: "Wo keine Menschen leben können, ergeht es Göttern nicht besser."
Diese Szene scheint mir darauf hinzuweisen, dass die Einstellung Cormac McCarthys zur Rolle des Kindes uneindeutig ist: Der Mutter des Kindes fehlte vor Jahren - ohne Glaube - der Mut zum Weiterleben. Gleichzeitig machte sie aber psychologisch stimmige Aussagen über das künftige Handeln ihres Ehemannes. Später führt McCarthy die Prophetenfigur des Ely ein, die die zitierte ketzerische Aussage macht, gibt der Szene dann jedoch dadurch noch eine zusätzliche Wendung, dass der zornige Vater den Jungen schilt: "Du bist nicht derjenige, der sich um uns Gedanken machen muss." Und, ganz als wäre er wirklich der Messias, "blickte [der Junge] auf, sein Gesicht feucht und schmutzig. Doch, das bin ich, sagte er. Ich bin derjenige."
Letztlich scheint mir für die Bewertung des Romans nicht entscheidend, wie man zum möglichen religiösen Gehalt steht, der gerade einigen amerikanischen Lesern die Lektüre sicher erträglicher macht. Man kann die Dialoge auch einfach ob ihrer Schlichtheit schön finden oder zumindest als im Tonfall realistisch akzeptieren. (Ein kleiner Einwand dazu: Der Kritiker der SZ bemängelte die Tatsache, dass Vater und Sohn nie anders als in ernstem Ton miteinander reden. In all den Monaten kein Witz, nicht einmal Galgenhumor.) Am Ende wird die Welt nicht von der gütigen Hand Gottes errettet. McCarthys Erzählung bleibt bis zum Schluss in dieser Hinsicht so grimmig wie konsequent. John Clute drückt es in seiner Rezension, wie ich finde, sehr treffend aus: "It is the story of what we have done to the planet that we did not want to have to read. It is a story I for one find it impossible to think of as being redeemed [erlöst] by a Christ. It is the story about the end of the world in which the world ends."
Zum Schluss noch einige Anmerkungen, die nicht direkt zur Rezension gehören:
1.) Cormac McCarthy ist 74 Jahre alt und hat selbst einen Sohn im Grundschulalter, dem dieser Roman auch gewidmet ist.
2.) In die karge Prosa des Buches eingestreut finden sich gelegentlich Passagen lyrischer Schönheit, so auf Seite 32 der tollste bildhafte Vergleich, der mir in den letzten Jahren begegnet ist: "Am Tag umkreist die verbannte Sonne die Erde wie eine trauernde Mutter mit einer Lampe."
3.) Die Straße gewann dieses Jahr den "Pulitzer Prize for Fiction".
4.) Laut der englischen Wikipedia-Seite wird in Hollywood gerade die Verfilmung vorbereitet, und man hat für die Rolle des Vaters Viggo Mortensen engagiert.
5.) Wie ich oben schon einmal erwähnte, habe ich für diese Rezension sechs andere Kritiken `geplündert’, und zwar aus "StrangeHorizons", Clutes Kolumne "Excessive Candour", SZ, FAZ und ZEIT. Die für meinen Geschmack beste (Victoria Hoyle) und schlechteste (Paul Kincaid) fanden sich beide in "StrangeHorizons".
Die Straße - die Rezension von Andreas Muegge