| Titel: Die Stadt der Blinden Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch
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"Die Angst macht blind"
In einer nie näher benannten Stadt sitzt ein Mann hinter dem Steuer seines Autos und wartet darauf, dass die Ampel auf Grün umspringt, als er ohne jede Vorwarnung erblindet. Er ist der erste Patient einer Epidemie, die bald als das "Weiße Übel" bekannt wird, weil den Betroffenen nicht schwarz vor Augen wird, sondern weiß. Dem Mann ist, als befände er sich mitten in einem Meer aus Milch.In Windeseile breitet sich die unbekannte Krankheit aus. Zuerst stecken sich die Menschen an, die an diesem Tage noch den Weg des ersten Patienten kreuzen. José Saramago stellt einige von ihnen im Einzelnen vor, weil er ihr weiteres Schicksal beispielhaft beschreiben wird. Da ist unter anderem die Ehefrau des ersten Patienten, der Augenarzt, den er konsultiert, sowie die Menschen in dessen Wartezimmer: ein einäugiger alter Mann, ein schielender Junge und eine Edel-Prostituierte.
Die durch den Augenarzt alarmierten Behörden reagieren drastisch: Sie stellen diese Blinden unter Quarantäne und verfrachten sie in ein leerstehendes Irrenhaus, rauben ihnen ihre Menschenrechte und sorgen dafür, dass sie bald auch ihre Menschenwürde verlieren werden.
Panische Soldaten haben die Anstalt umzingelt und drohen, jeden zu erschießen, der sich ihnen nähert. In dieser Situation versuchen die Gruppenmitglieder, sich solidarisch zu verhalten, sich untereinander zu helfen, was dadurch erleichtert wird, dass sie eine Sehende unter sich haben, die ihre Erblindung nur vorgetäuscht hat - die Frau des Arztes. Als ihr Mann abtransportiert werden sollte, griff sie zu einer Lüge, um ihn begleiten zu können.
Diese Frau - die wie alle anderen Charaktere auch namenlos bleibt - ist der einzige Mensch, der sich als gegen die Epidemie immun erweisen wird. Dadurch wächst ihr eine ungeheure Verantwortung zu und eine große Bürde: Auf ihren Schultern lastet das Schicksal ihrer Mitgefangenen und sie allein muss mit eigenen Augen ansehen, wie die Menschen äußerlich wie innerlich zu Tieren werden. Die sanitären Bedingungen werden immer schlimmer, die Menschen beschmutzen sich, und als immer mehr Blinde neu eintreffen, eskaliert die Situation. Während sich außerhalb der Anstaltsmauern die staatliche Ordnung auflöst, kommt es im Mikrokosmos Irrenhaus zum Kampf um Nahrung, zu Vergewaltigung, Mord und Totschlag.
Erst als auch die Wachsoldaten erblindet sind, eröffnet sich eine neue Chance auf ein gewisses Maß an Menschlichkeit. Die kleine Gruppe um die Frau des Arztes kehrt zurück in eine Welt, in der die meisten Supermärkte geplündert sind und die Menschen Hunger leiden. Ist in dieser Situation ein Überleben noch möglich? Und welche moralischen Kompromisse muss man dafür eingehen?
Form und Inhalt
Die Handlung von Die Stadt der Blinden dürfte jedem Genreleser bestens aus anderen Katastrophenromanen bekannt sein. In John Wyndhams The Day of the Triffids z. B. wird gleichfalls eine Situation geschildert, in der fast die gesamte Menschheit abrupt das Augenlicht verliert. Was das Buch des Nobelpreisträgers Saramago jedoch von anderen Werken seiner Gattung unterscheidet, ist das Fehlen eines benennbaren Auslösers. Hier gibt es weder böse Aliens aus dem All noch eine von Menschen gemachte Epidemie - zumindest nicht im direkten Sinne. Der portugiesische Autor hatte seit je einen Hang zum Parabelhaften, und der ist in seinem Longseller Die Stadt der Blinden (die Rowohlt-Taschenbuchausgabe ist, glaube ich, derzeit in der 11. Auflage) unübersehbar. Das beginnt bei dem auktorialen (= allwissenden) Erzähler und setzt sich fort im Fehlen jeglicher Personennamen, bei der Krankheit selbst (die Betroffenen erleben jeden wachen Moment in gleißendem, weißem Licht - eine Art farbliches Ausrufezeichen, das auf den Symbolcharakter des "Übels" hinweist?) und den regelmäßigen moralisch-philosophischen Diskussionen der Charaktere.
Die anonyme Person des Erzählers - hinter dem sich ein alter (!) Schriftsteller verstecken könnte, dem die Gruppe um die Frau des Arztes spät im Roman begegnet - bewahrt stets eine große Distanz zum Geschehen, spricht wiederholt den Leser direkt an und lässt ständig psychologische wie moralische Überlegungen einfließen, die sich auf generelle menschliche Verhaltensweisen beziehen. Er betont also die allgemeingültigen Aspekte der Geschichte. Sein Tonfall kann dabei ebenso neutral wie mitfühlend sein, sarkastisch, aber auch humorvoll. Da gibt es dann lange Exkurse über das "moralische Gewissen", Seitenhiebe auf die politische Kaste und etwa eine lustvolle Szene, in der die Prostituierte - die Saramago immer nur "die junge Frau mit Brille" nennt - meint, ihr werde beim Orgasmus weiß vor Augen, während sie in Wirklichkeit doch nur erblindet.
Die anderen Protagonisten dieses Romans heißen "der Arzt", "die Frau des Arztes", der Alte mit der schwarzen Augenklappe" (neben dem Schriftsteller ein weiteres Alter ego des Autors), "der schielende Junge, "der erste Patient" sowie "die Frau des ersten Patienten". José Saramago verzichtet bei den Personen seiner Romane meist auf Namen. In einem Interview mit der ZEIT bemerkte er kürzlich: "... dass meine Figuren meist keine Namen, Gesichter, Biografien haben. Ich beschreibe ihre Psychologie, aber nicht ihre Haarfarbe oder ihre Herkunft." Die Vergangenheit der Charaktere wäre im vorliegenden Buch aber auch ohne Belang. Hier geht es um die grundsätzliche Frage, wie sich Menschen in einer Extremsituation verhalten. Sind sie zu Solidarität / Mitgefühl / zwischenmenschlicher Liebe fähig, oder regredieren sie zu mörderischen Wölfen unter Wölfen?
Die Katastrophe als Litmustest: Diese Problemstellung ist weder neu noch originell und wird doch in den Diskussionen zwischen den handelnden Personen allzu häufig erörtert. Ein Beispiel von vielen zur Illustration:
"Ja gut, sagte der Alte mit der schwarzen Augenklappe, ich bin erblindet, als ich mein blindes Auge anschaute, Was soll das heißen, Ganz einfach, es fühlte sich so an, als sei der leere Augapfel entzündet, und ich nahm die Klappe ab, um mich zu vergewissern, in diesem Augenblick bin ich erblindet, Wie eine Parabel, sagte eine unbekannte Stimme [Anm.: das dritte Alter ego des Autors], das Auge, das sich weigert, seine eigene Abwesenheit zu erkennen. (...) Mein Fall, sagte der Apothekengehilfe, war einfacher, ich hörte, daß es Menschen gab, die erblindeten, da dachte ich darüber nach, wie es wohl wäre, wenn auch ich erblindete, ich schloß die Augen und probierte es aus, und als ich sie öffnete, war ich blind. Das scheint wieder eine Parabel zu sein, sagte die unbekannte Stimme, wenn du blind sein willst, wirst du es sein. Sie schwiegen alle." [S. 158ff]
Am obigen Textbeispiel werden einige stilistische Eigenheiten des Autors deutlich: Saramago geht sehr `sparsam’ mit Punkten um. Er benutzt keine Anführungszeichen und erspart dem Leser oft das nervige Er-sagte-sie-sagte. Wenn der Sprecher wechselt, wird das dadurch angezeigt, dass dessen erstes Wort mit einem Großbuchstaben beginnt. Das Druckbild eines Saramago-Romans zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass alle Zeilen zur Gänze genützt werden. Weiße Flächen im Textbild kommen nicht vor.
Wie schon gesagt, Saramago zeigt zuweilen allzu deutlich, worum es ihm geht. Dennoch ist Die Stadt der Blinden über weite Strecken ein beeindruckender Roman, und zwar aus zwei Gründen: Der Autor verbiegt seine Figuren nicht, und sein distanzierter, nüchterner Stil erweist sich als dem Thema angemessen. Wie man so schön sagt: Die Personen in diesem Buch sind `Leute wie du und ich’, Menschen mit einer breiten Auswahl an Schwächen. Tendenziell kommen die Frauen dabei besser weg als die Männer - sind im Innern stärker -, und die Frau des Arztes gar wird beinahe zu einer Art Heiligenfigur, die nur mit Mühe `die Last der Welt’ und die Bürde ihrer Verantwortung trägt. Aber auch nur beinahe: Gerade ihre Verantwortung macht es nämlich nötig (?), dass sie ständig moralische Kompromisse eingeht. Sie mordet (Mörder), lässt hilflose Menschen dahinvegetieren - und gegen Ende nutzt sie die Massenpanik in einer Kirche, um die noch Ärmeren, die eh schon alles verloren haben, ihres letzten Bissens Nahrung zu berauben. Alles das tut sie, um ihre neue Patchwork-Familie am Leben zu erhalten.
Stilistisch hebt sich Die Stadt der Blinden von einer Flut thematisch ähnlicher Bücher dadurch ab, dass sich sein Autor konsequent einem thrillerhaften Schreibstil verweigert. Kurz vor dem Ende des Buches entspinnt sich ein Gespräch zwischen der Frau des Arztes und dem oben schon einmal erwähnten alten Schriftsteller:
"Oh, Sie gehören zu denen, die in Quarantäne waren. Ja, Das war hart, Das ist sehr milde ausgedrückt, Entsetzlich, Sie sind Schriftsteller, Sie müssen, wie Sie gerade noch gesagt haben, sich mit den Wörtern auskennen, also wissen Sie auch, daß Adjektive nichts nützen, wenn ein Mensch einen anderen tötet, wäre es zum Beispiel besser, dies einfach auszusprechen und darauf zu vertrauen, daß das Entsetzliche dieser Tat an sich schockierend genug ist, so daß wir nicht noch zu sagen brauchen, es war schrecklich, Wollen Sie damit sagen, daß wir zu viele Wörter haben. Ich wollte damit sagen, daß wir zuwenig Gefühle haben, Oder wir haben sie, aber wir benutzen die Wörter nicht, die sie ausdrücken. Und deshalb verlieren wir sie ... [S. 355]
In den wirklich schockierenden Szenen dieses Buches berichtet der Erzähler nüchtern, was passiert, und beachtet peinlich die `Adjektivregel’ - und das Buch profitiert davon.
Die Stadt der Blinden wurde mittlerweile von dem brasilianischen Regisseur Fernando Meirelles (City of God, Der ewige Gärtner) mit Julianne Moore in der Hauptrolle als Frau des Arztes verfilmt. In der Filmfassung gehören zu ihrer neuen `Familie’ ein asiatisches Ehepaar und ein Afroamerikaner (Danny Glover) als "Alter mit Augenklappe" - eine von vielen Möglichkeiten, diese Rollen zu besetzen. Genauso frei war der Regisseur in der Wahl seines Drehortes: José Saramago hat seiner Stadt keinen Namen gegeben. Seine Art von Blindheit kann Menschen in Portugal genauso befallen wie z. B. in Kanada (wo der Film produziert wurde).
2004 ist eine Fortsetzung des Romans erschienen, die keine Fortsetzung ist: Die Stadt der Sehenden, ein politischer Ideenroman über die Möglichkeit des Einzelnen, sich in Zeiten der Bedrohung der Demokratie richtig zu verhalten und Gutes zu tun.