Serie / Zyklus: edfc Jahresanthologie 2008 Eine Besprechung / Rezension von Alfred Kruse |
Christian Schmitz : Willkommen bei Iris-Space
Die Alternative zum klassischem Check-In mit Weitergabe von persönlichen Daten an den Staat besteht in einer Kontrolle mittels biometrischem Scan. Dieses ist privat organisiert, das unethische Verhalten also vorprogrammiert.
Am Beispiel eines Vielfliegers der Zukunft beleuchtet der Autor die Alternativen staatlicher Kontrollen. Eine nette kleine Geschichte mit Seitenhieben auf die Fortschrittsgesellschaft und auf die "Bloß keine Daten von mir an eine staatliche Organisation"-Fundamentalisten. Ein schöner Anfang !
Gil Ainsworth : Auge um Auge
Um ihrem Sohn bessere Zukunftschancen zu verschaffen, tötet die Protagonistin Kinder.
Obwohl ziemlich vorhersehbar, ist die Story packend geschrieben. Welt als auch die handelnden Personen sind plastisch, der Irrsinn der Protagonistin wird leise aber deutlich zum Leser transportiert. Der bitterböse Stil der Geschichte erinnert mich irgendwie an Roald Dahl, was mir persönlich ganz besonders gefiel. Lesenswert !
Hartmut Kasper : Besuch aus dem Nichtraucheruniversum
Ein Dimensionsreisender aus einem Nichtraucheruniversum isst ein Zigeunerschnitzel.
Nix sonst passiert in dieser Geschichte, rein garnix. Dagegen ist Warten auf Godot ein Action-Theater. Und trotzdem habe ich mich köstlich amüsiert, die ganze Zeit gegrinst. Ohne daß der Autor in irgendeiner Form explizit Stellung nimmt, stellt er die Absurdität solch prohibitiver Verbote deutlichst dar. Ich habe mich köstlich amüsiert - und frage mich, wie Nichtraucher diese Geschichte empfinden.
Heidrun Jänchen : Die Guerilla erwacht
Drei Zwerge und ein Holweibel schließen aus der Existenz eines Gartenzwerges messerscharf, dass ein böser Zauberer in der Stadt ist. Aus einem Werbeplakat am Straßenrand entnehmen sie auch Namen und Wohnsitz : Hadi heisst er und residiert im gleichnamigem Baumarkt ...
Ganz nett, aber ohne tieferen Sinn. Schade, dass zu früh verraten wurde, dass es sich um Zwerge handelt, da hätte man etwas draus machen können. So aber bleibt die Story unterer Durchschnitt.
Thomas Wawerka : Der alte Mann und das Glück
Die Erde ist ein Einwanderungsplanet für Außerirdische, die hier unerkannt zwischen den Menschen ihr Glück suchen. Aber manchmal ist diese Suche ergebnislos.
Eine sehr stille nachdenkliche Geschichte. Die Isolation, das Alleinsein, die Kälte der Großstadt wird rein anhand von Stimmungen geschildert. Etwas deutlicher wird Thomas Wawerka bei der Darstellung des Gesundheitswesens und wie es mit alten Menschen umgeht. Aber auch hier wird der Hauptteil der Aussage über emotionale Darstellungen transportiert. Sehr gelungen, hat mir, obwohl es nicht mein persönlicher Lieblingsstil ist, ganz hervorragend gefallen.
Judith Rau : Der Tokee
Die Menschheit auf der Erde ist aufgeteilt in Arbeiter und Intellektuelle. Erstere werden von letzteren als Sklaven gehalten. Auf anderen Planeten soll es besser sein, also entwickelt sich bei den Sklaven eine Widerstandsbewegung.
Die Autorin konnte offenbar kein Ende finden. Wäre nach der Hälfte der Story Schluß gewesen, hätte dies eine ziemlich gute Geschichte über die Einsamkeit eines Dichters gewesen. So ist es weder Fisch noch Fleisch, der zweite Teil konterkariert den ersten. Schade !
Hanrei Wolf Käfer : Para Situs Wien AG
Jeder verkauft alles, entweder direkt oder via eBay : Auto, Fernglas, Herd, Haus, Kind, Frau ...
Gelungen stellt der Autor den eBay-Wahn dar, das Verkaufen rein um des Verkaufens Willen. Und pointiert zeigt er die damit einhergehende Entwurzelung des Menschen auf. Eine hervorragende Story, die ich ganz besonders genossen habe.
Andrea Tillmanns : Der Zauberkasten
Ein magischer Kasten zeichnet alle Bilder, die man sich vorstellt. Lebewesen allerdings werden in die Welt des Bildes versetzt.
Was will uns die Autorin mit dieser Story sagen ? Keine Ahnung, obwohl gut geschrieben, kommt sie mir doch ziemlich sinnfrei vor. Schade um die Idee.
Michael K. Iwoleit : Leere Alternativen
Aus dem 14. Jahrtausend heraus wird ein banaler Abschnitt im Leben eines Schriftsteller betrachtet.
Eine Geschichte über verpasste Chancen. In einem genialem ruhigen Stil erzählt MKI über eine ereignislose Zeit im Leben eines Schriftstellers, nachdem sich dieser von seiner Frau getrennt hat. Der Autor schildert die Passivität, in die der Protagonist verfällt, sein Unvermögen, neue soziale Kontakte aufzubauen. Dies wiederum führt zu einer trostlosen Zukunft. Extrem gelungen fand ich die Idee zu behaupten, daß in keiner Alternativwelt ein anderer Verlauf möglich sei. Der Widerspruch beim Leser, der dadurch aufgebaut wird, zeigt auf, daß es immer eine Alternative gibt. Ein stilles Highlight dieser Anthologie.
Stephan Peters : Todesschatten
Gemeinsames Bücherlesen kann manchmal schon einen gewissen sektiererischen Eindruck machen ...
Gelungene Horror-Story, bei der das Grauen sich klassisch bereits am Anfang ankündigt und ebenso klassisch sich erst im letzten Absatz manifestiert. Sehr schön geschrieben, ein Autor, den man sich merken muß.
Anke Laufer : Kilphire Hoe
Auf einer Insel leben Schnecken, die bei Verzehr einen Blick in ein Paralleluniversum ermöglichen.
Obwohl gut geschrieben finde ich zu dieser Story keinen Zugang. Schade.
Uwe Schimanek : Das Tor
Raik Richter, ein Tüftler und Erfinder, verkleinert das Brandenburger Tor auf Mausgröße und versetzt es hinter die polnische Grenze.
Eine ruhige Geschichte, die ganz ohne Action auskommt, eine Art SF Road Movie Story. Aufregender als die Geschichte selber ist die Schilderung der Landschaft, eines Brandenburg, das nicht mehr unter hoheitlicher Kontrolle der deutschen Regierung steht, sondern von Global Playern ("GooSoft" ;-)) nach eigenem Gusto verwaltet wird. Hier, bei dieser Schilderung, zeigt sich der eigentliche Sinn der Story, eine Warnung vor der unbeschränkten Privatisierung. Sehr gelungen, hat mir ausnehmend gut gefallen.
Hubert Katzmatz : Pilz im Glück
Ein Millionen-Gewinner verschenkt seinen Gewinn und geht an dieser Schenkung zugrunde.
Was will mir diese Story sagen ? Keine Ahnung, einen Sinn habe ich in dieser Schilderung nicht gefunden, auch Aktionen und Reaktionen der Protagonisten halte ich für fragwürdig bis seltsamst.
Volker Groß : Das Nornen-Artefakt
Das Artefakt der Nornen, ein magischer Füller, versetzt den Besitzer in die Lage, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aller möglichen alternativen Realitäten zu sehen und aufzuschreiben. Leider funktioniert er nur mit Blut ...
Eine nette kleine Alternate World - Story, nicht der absolut geniale Wurf, aber durchaus fesselnd geschrieben. Wenn auch kein Highlight, so doch definitiv im oberen Qualitätsdrittel anzusiedeln.
Matthias Falke : Klio ging voran
Klio und Teiresios gelangen in eine Welt, in der die Zeit nicht liniear verläuft.
Obwohl gut geschrieben, bleibt mir der tiefere Sinn dieser Geschichte verborgen. Schade drum !
Christian Weis : Der Schwarze Mann in Weiß
Rolands Freund Gregor ist mit der Krankheit des vorzeitigen Alterns geschlagen. Als er im Zirkus eine Wolfsfrau sieht, glaubt Gregor, eine verwandte Seele vor sich zu haben, die es zu befreien gilt ...
In faszinierender Art und Weise entfaltet Christian Weis das Panorama des Erwachsenwerdens vor dem Leser, mit besonderem Fokus auf die unspezifizierten Ängste von Kindern. Deutlich, fast schon plakativ, zeigt der Autor auf, dass das Böse nicht der Schwarze Mann von außerhalb ist, sondern es sich im Nachbarn von nebenan, im Freund, der auf Abwege geraten ist, manifestiert. Eine ruhige bitterböse Geschichte, die mir ausnehmend gut gefallen hat. Die beste dieser Anthologie !
Christel Scheja : Eine andere Wahrheit
In einer mittelalterlichen Gesellschaft wird eine alte Frau von zwei Inquisitoren verhört. Es stellt sich zwar heraus, daß sie nicht gegen die Gebote ihres Gottes verstoßen hat, aber trotzdem drei Ehemänner umbrachte.
Sehr schön arbeitet die Autorin das Verdrängen der Morde heraus, die die alte Frau im Laufe ihres Lebens begangen hat. Und die Bigotterie der Inquisition, die derartiges nicht bestraft. Der angenehme Stil tut ein übriges, mich diese Geschichte genießen zu lassen.
Frank Neugebauer : Das Vierdritteluniversum
Eine übers Internet gekaufte Kupfermatte gegen "schädliche Strahlung" erweist sich als Transmitter zwischen einem Paralleluniversum und dem unsrigem.
Brilliant zeigt Frank Neugebauer auf, daß nicht die großen Veränderungen glücklich machen, daß es oftmals schon kleine und kleinste Änderungen vollkommen ausreichen. Solche Veränderungen, für die es keinen Transmitter geben muß, die jeder von uns selbst durchführen oder anstreben kann. Eine bemerkenswerte Geschichte, ein Highlight dieser Anthologie.
Manuela P. Forst : Von Spitzohren und Spezialisten
Ein Elf übernimmt eine Zwergenmine. Und stellt sofort hilfreiche Elfen-Berater ein, die den Betrieb auf ihre Art zu optimieren versuchen. Ein Zwerg, der sich dies nicht gefallen lässt, endet als Berater einer Kobold-Mine - die er auf seine Art zu optimieren versucht ...
Eine Satire über Unternehmensberater, die insbesondere McKinsey et. al. dringend lesen sollten. Vielleicht am Ende nicht bissig genug, ich als Unternehmensberater habe mich jedenfalls köstlich amüsiert.
Wolfgang G. Fienhold : Der Keller
In einem altem Haus lebt eine alte Dame, die regelmäßig von Motorradfahrerinnen abgeholt wird. Den Maler von gegenüber und seinen Sohn lässt die Neugier nicht los, eines Tages brechen sie dort ein ...
Nette Schreibe, netter Plot, doch seltsam unbefriedigend. Wieder einmal frage ich mich, was mir der Autor damit sagen wollte. Der Inhalt hält nicht, was Stil und Setting versprechen. Bedauerlich !
Jürgen Thomann : Zwischen den Dimensionen
Wirre Story um eine Dimensionswanderin, deren Schizophrenie sich in einem Alter Ego manifestiert.
Neben einer einfachen WK I - Story bleibt mir der Sinn des Ganzen verborgen. Dies ist um so ärgerlicher, als der Stil des Autors durchaus ansprechend ist.
Hartmut Schönherr : Die Rückkehr der Salamander
Die Dinosaurier sind nicht ausgestorben, sie sind vor den Meteoritenschwärmen vor 65 Millionen Jahren ins Weltall ausgewandert. Da die Menschen die Erde nicht gut behandeln, holen sie jetzt ihre letzten Verwandten, die Salamander, ab.
Ok, plakativ ist sie ja, die Story. Und der Plot ist auch nicht unbedingt innovativ zu nennen. Trotzdem ist sie angenehm geschrieben, sie hat mir gut gefallen, einige der Details fand ich hervorragend. Ganz besonders angenehm fand ich, daß dies zwar eine belehrende Story ist (und daran auch keinen Zweifel lässt), doch trotzdem ohne den moralinsauren erhobenen Zeigefinger auskommt.
Malte S. Sembten : Die Rote Kammer
Ein Katholik ist gefangen und wird in der Roten Kammer gefoltert. Obwohl Selbstmord in seinem Glaubenscanon eine Todsünde ist, hält er es nicht aus und bringt sich um. Er landet in der Hölle und wird in der dortigen Roten Kammer weitergefoltert.
Mir gefällt diese Geschichte überhaupt nicht. Das hat nichts mit dem Stil oder der Form zu tun, auch die Schreibe insgesamt ist gut. Nein, der Inhalt, die Moral ist’s, was ich entschieden ablehne. Aus meiner ganz persönlichen Sicht heraus stellt diese Geschichte den absoluten Bodensatz dieser Anthologie dar.
Paul Felber : Der Baum
Bäume leben und rächen sich für Verstümmelungen in Form von eingeritzten Namen - dreißig Jahre später.
Sehr stimmungsvoll geschrieben. Auf den ersten Blick etwas krude, auf den zweiten, intensiveren aber eine schöne Fabel über das Thema "Umwelt". Ähnlich wie "Die Rückkehr der Salamander" ist die Story etwas plakativ, aber ebenso gut ausgeführt.
Fernando Sorrentino : Schuld hat Dr. Moreau
Beim Besuch seiner zukünftigen Schwiegerelteren stellt der Protagonist fest, daß sein Schwiegervater in spe eine starke Ähnlichkeit mit einem Oktopus hat ...
Gut erzählte Geschichte mit schönen Bildern aber leider recht belanglosem Inhalt. Angenehmer Lesestoff für Zwischendurch.
Friederike Stein : Rosensommer
Im Rahmen einer Rosenschau übernehmen die vielen verschiedenen Rosensorten eine Kleinstadt.
In Form eines Tagebuch-Romans entfaltet sich vor dem Leser ab den ersten Vorbereitungen das Idyll einer Kleinstadt im Rosenfieber, zusammen mit den klassischen Klüngeleien und Eifersüchteleien. Erst nach und nach nehmen die Rosen überhand, was fast unterschwellig erzählt wird. Eine schöne Geschichte mit einem alten Thema, unterkühlt aber gelungen dargestellt. Lesenswert !
Uwe Post : Der letzte Atemzug des Amli Kimlisohn
Ein Zwerg wird in den Weltraum geschossen, stellt fest, daß die Welt eine Scheibe ist und stirbt an Sauerstoffmangel.
Was ich hier so einfach schildere stellt Uwe Post in seiner Story als ganz normale, ja fast zwangsläufige Entwicklung in einer Fantasy-Welt dar. Überaus gelungen seine Darstellung der Zwergengesellschaft, in der er klassische Eigenschaften von Zwergen konsistent zu Ende denkt. Diese pseudo-realistische Darstellung zusammen mit dem innovativem Plot machen die Story zu einem kleinen Juwel der Fantasy. Eines der Highlights dieser Anthologie.
Achim Stößer : Alois hinter den Spiegeln
Zwei Freunde entdecken einen Zauberspiegel, einer von ihnen geht durch ihn in ein phantastisches Land.
Nett erzählt, aber komplett belanglos. Ich fragte mich, was der Autor uns damit sagen wollte. Oder ob das nur der Anfang einer längeren Geschichte ist ?
Frank W. Haubold : Die Stadt am Meer
Es ist Krieg. In einem Lazarett liegt ein verwundeter Soldat, dessen Geist vor dem Grauen geflohen ist und sich in seiner eigenen Realität eine kleine Stadt am Meer erträumt. Aber die Wirklichkeit holt ihn ein ...
Einmal mehr erzählt Frank W. Haubold von der Menschlichkeit. Es ist menschlich, vor dem Grauen die Augen zu verschließen. Ebenso wie es menschlich ist, diese Flucht nur eine gewisse Zeit durchzuhalten. Mit dieser Geschichte bleibt Frank W. Haubold in der Tradition der "Schatten des Mars", des letztjährigen DSFP-Gewinners. Diese Geschichte ist nicht weniger gut als die in diesem Episodenroman zusammengefassten Stories, doch zu sehr Phantastik, zu wenig SF, als daß sie auch dieses Jahr für den DSFP nominiert wurde. Nichtsdestotrotz ist dieses Spiel mit den Realitäten ganz große Phantastik mit einem Hauch von Philip K. Dick. Ein wirklich gelungener Abschluß dieser Anthologie, der den Leser sich schon auf den nächsten Jahresband freuen lässt.
Fazit : Wieder einmal legt Frank W. Haubold einen gelungenen edfc-Jahresband vor. Sehr schön entfaltet er vor dem Leser die Bandbreite der Phantastik und stellt auch und gerade die Bereiche jenseits des Mainstreams dar. Mir hat nicht jede Geschichte gleich gut gefallen, insgesamt habe ich jedoch den Eindruck einer hervorragend gelungenen Komposition von Stories. Ich denke, dieser Jahresband ist ein unverzichtbares Nachschlagewerk, anhand dessen man sich im Großbereich der Phantastik orientieren und seine eigene Lieblings-Nische finden kann. Von daher halte ich diesen Jahresband für jeden Freund der Phantastik, ob SF-, Fantasy-, Horror- oder sonstiger Genre-Fan für ein unbedingtes Muß.