Titel: Die Plätze der Stadt (1980) Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Die Stadt als Schachbrett
In der Sekundärliteratur wird "Die Plätze der Stadt" häufig als einer der gesellschaftskritischen Romane genannt, die John Brunner in den sechziger Jahren in die erste Reihe der SF-Autoren katapultierten. Als das Buch 1965 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, war Brunner bereits über ein Jahrzehnt `im Geschäft’ und hatte sich einen soliden Ruf als Autor futuristischer Abenteuerromane erschrieben. "The Squares of the City" wurde 1966 in der Sparte "Bester Roman des Jahres" für den HUGO nominiert und die deutsche Übersetzung erschien 1980 innerhalb der Science-Fiction-Reihe des Heyne Verlages. Dabei ist der SF-Gehalt des Buches denkbar gering: Sein wichtigster Schauplatz ist die Hauptstadt eines fiktiven (wohl zentralamerikanischen) Staates. Dort erzählt der Autor dann allerdings eine Geschichte, wie sie in jedem normalen politischen Roman auch zu finden sein könnte:
Der australische Verkehrsanalytiker Boyd Hakluyt ist auf seinem Gebiet einer der angesehensten Experten. Jetzt hat er einen Auftrag erhalten, der seinem Ego schmeichelt und sein Ansehen weiter mehren dürfte: Er soll die Verkehrsprobleme von Ciudad de Vados lösen, der gerade einmal zehn Jahre alten Hauptstadt der Republik Aguazul. Vados, benannt nach dem Präsidenten, der seit zwanzig Jahren das Land regiert, ist der Traum aller Architekten des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Von internationalen Fachleuten am Reißbrett entworfen, bot die Stadt ihren Erbauern die Gelegenheit, Gesichtspunkte der Ästhetik, Funktionalität und Lebensqualität bei ihrer Planung gleichermaßen zu berücksichtigen. (Zweifelsohne diente dem Autor Brunner hier Brasilia als Vorbild.)
Hakluyts Enthusiasmus erhält allerdings schon kurz nach seiner Ankunft einen ersten Dämpfer, als er auf der Taxifahrt vom außerhalb gelegenen Flughafen in die Innenstadt ärmliche Slums durchqueren muss. Wenig später informiert ihn der Leiter des Straßenverkehrsamtes, Donald Angers, über die Situation und erklärt ihm, worin genau seine Arbeit vor Ort bestehen soll. Seit Monaten strömen Menschen aus den bitterarmen ländlichen Regionen in die blitzsaubere, hochmoderne Stadt. An verschiedenen Orten sind Slums entstanden, über deren weiteres Schicksal ein zunehmend aggressiv ausgetragener Streit zwischen den zwei großen politischen Gruppierungen des Landes entbrannt ist. Auf der einen Seite steht die Staatsbürgerliche Partei des Präsidenten Juan Vados, die den durch die neue Hauptstadt eingeleiteten Aufstieg vom Entwicklungsland zu einem modernen Staat gefährdet sieht. Die oppositionelle Nationalpartei dagegen um den Innenminister Esteban Diaz möchte die ungebetenen, ungebildeten Neubürger integrieren. Hakluyt nun wurde von der Präsidentenseite zu dem Zweck engagiert, an einigen Plätzen der Stadt die Verkehrssituation so zu verändern, dass den Slumbewohnern das Leben zu mühselig wird und sie die Stadt wieder verlassen. Als Leser horche ich hier zum ersten Mal auf. Warum erfährt Hakluyt das erst jetzt? Würde ein Fachmann wie er wirklich ohne vorherige exakte Jobbeschreibung anreisen? Und wieso wusste er vorher fast nichts über die innenpolitische Situation, die Angers ihm beschreibt? Dies ist nur eine von vielen Stellen, an denen mich die Logik der Romanhandlung betreffend Zweifel befielen.
Im weiteren Verlauf fungiert Hakluyt für uns als der typische Besucher von auswärts, durch dessen Augen wir die fremde Stadt und deren Bewohner kennen lernen. Oder auch nicht, denn da Hakluyt der Durchblick fehlt, tappen auch wir völlig im Dunkeln. Ständig laufen dem Verkehrsanalysten namhafte Vertreter der beiden politischen Parteien über den Weg, die ihm ihre Sichtweise der Dinge darlegen wollen. Einige wichtige Figuren sind dabei Maria Posador, die Witwe eines früheren Präsidentschaftskandidaten, der vor vielen Jahren nach einer Rufmordkampagne gegen sich den Freitod wählte, "Fettsack" Brown, ein stadtbekannter Armenanwalt, oder - auf Regierungsseite - neben Donald Angers noch der Informationsminister Alejandro Mayor, dessen Staatsfernsehen unterschwellige Botschaften in seinen Programmen versteckt, um politische Ziele zu befördern. Da werden dann z. B. in einer Diskusionssendung mit Boyd Hakluyt - für die Zuschauer nicht bewusst wahrnehmbar - Bilder von Slumbewohnern eingestreut, die gerade ihre Kinder vergewaltigen.
Der Besucher aus Australien erkennt rasch, dass beide Seiten ihn instrumentalisieren wollen, hört sich aber weiterhin brav alle Meinungen an. Selbst als einige seiner neuen Bekanntschaften eines unnatürlichen Todes sterben und Ciudad de Vados für ihn zum heißen Pflaster wird, zieht er nicht die Konsequenz abzureisen. Dass er so und nicht anders handelt, empfand ich als Leser zwar als seltsam, es störte mich aber nicht mehr, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon lange das Interesse am weiteren Verlauf der Geschichte verloren hatte. Unglücklicherweise hat Brunners Werk nämlich ein fatales strukturelles Problem: Auf seinen ersten 300 Seiten bleibt völlig unklar, worum es dem Autor geht. Wir erleben Boyd Hakluyts Alltag, hören (meist aus zweiter Hand) von politischen Ränkespielen und können uns nur fragen, was uns das alles angehen soll. In "Die Plätze der Stadt" kommen statt `runder’ Charaktere nur Namensträger vor. Das wäre verschmerzbar, wenn uns John Brunner zum Ausgleich andere interessante Dinge zu erzählen hätte. Das ist aber nicht der Fall. In einer Rezension habe ich für den Roman die Bezeichnung Polit-Thriller gefunden. Dummerweise ist hier aber rein gar nichts `thrilling’. Um die realistische Beschreibung politischer Abläufe und Prozesse kann es auch nicht gehen, da Hakluyt dazu der nötige Durchblick fehlt. Bliebe vielleicht noch die Möglichkeit `Lokalkolorit’, jedoch auch in diesem Punkt bietet die Geschichte wenig. Gleich zu Beginn des Buches meint der Erzähler Hakluyt (auf Seite 13):
"Infolge der fürs zwanzigste Jahrhundert typischen Homogenisierung der Kultur hätte der größte Teil der [Taxi-]Fahrt annäherungsweise durch irgendeine Großstadt in den Vereinigten Staaten oder Westeuropa verlaufen können ..."
Ciudad de Vados ist also eine Stadt wie tausend andere (nur moderner), und eine besondere Atmosphäre glaubt John Brunner nicht sprachlich erzeugen zu müssen. Langer Rede kurzer Sinn: "Die Plätze der Stadt" ist ein sehr langweiliges Buch.
Dass ich so etwas schreibe, überrascht mich fast selbst; denn in der Vergangenheit empfand ich selbst schwächere Werke des Autors doch immer als zumindest gut lesbar. Ich glaube, John Brunners Fehler bei diesem Roman war, dass er eine interessante Ausgangsidee hatte, nicht aber die Muße (?) / Geduld (?) / Fähigkeit (?), sie in angemessener Weise umzusetzen. [SPOILERALARM!] Brunner stellte sich die Frage: Wenn ein Land am Rande des Bürgerkriegs steht, ist es da nicht viel sinnvoller, den Kampf um die Macht auf einem begrenzten Gebiet - den Stadtgrenzen von Ciudad de Vados -, mit strengen Regeln und entsprechend geringen Opferzahlen auszutragen? Juan Vados und und Esteban Diaz spielen eine Partie Schach mit menschlichen Figuren, bei denen sie die Könige sind und jeweils fünfzehn Spieler für ihre Seite bestimmen können, die von ihrer Rolle jedoch keine Ahnung haben und jeweils gekonnt manipuliert werden müssen, damit sie den anvisierten Zug auch ausführen. Das klingt arg kompliziert und ist es auch, aber es scheitert als Romanstory schon daran, dass der Leser nichts von der Existenz dieses Spiels ahnt. Brunners Roman liest sich letzlich wie eine Schlusspointe mit 300-seitiger Vorgeschichte. In einer Nachbemerkung des Autors, an die sich auch noch die `Aufstellung’ der beiden Mannschaften anschließt (Boyd Hakluyt ist der weiße Königsspringer), behauptet Brunner, er habe sich beim Handlungsaufbau minutiös an eine alte Schachweltmeisterschaftspartie zwischen Wilhelm Steinitz und Michail Tschigorin gehalten. Das mag sein, aber davon haben wir als Leser nichts. Womöglich hätte es dem Roman ja gut getan, wenn Brunner die Notation jedes einzelnen Zuges in die Handlung eingefügt und / oder uns Lesern regelmäßig Szenen mit Vados und Diaz am Schachbrett geboten hätte. Womöglich, wahrscheinlich aber nicht - zu `phantastisch’ erscheint mir letztlich das ganze Szenario. Vielleicht hätte die Idee ja als Kurzgeschichte besser funktioniert ...?
Um nicht nur auf das Buch einzuprügeln, zum Abschluss noch etwas Postives: Ich kann durchaus nachvollziehen, dass "The Squares of the City" (als `squares’ - Quadrate - bezeichnet man im Englischen u. a. die Felder eines Schachbretts) bei seinem Erscheinen sehr positiv aufgenommen wurde, da es tatsächlich mit einer handwerklich soliden Sprache glänzen kann, die sich deutlich von dem abhebt, was mir persönlich in den meisten vor 1965 geschriebenen Werken begegnet ist. Außerdem ist Brunner aufrichtig bemüht, ein ausgewogenes Bild der politischen Lage in dem kleinen lateinamerikanischen Staat zu zeichnen, das plumpes Schwarzweiß-Denken vermeidet und einige generelle Dritte-Welt-Probleme anspricht, die zumindest damals noch nicht jedermann geläufig waren. - Trotzdem bleibt das Problem des Handlungsaufbaus, an dem der Roman als Ganzes scheitert.