Reihe: Visionen (Band 2) |
Bereits die erste Ausgabe der von Helmuth W. Mommers initiierten Reihe von jährlich erscheinenden Kurzgeschichtenbänden bescherte dieser sechs Nominierungen für den Kurd Laßwitz Preis und fünf für den Deutschen Science Fiction Preis. Dabei wurden gerade im letzten Jahr so viele Kurzgeschichten verlegt wie lange nicht mehr. Für Helmuth W. Mommers dürfte dies Bestätigung und Motivation zugleich gebracht haben. Obwohl die Kurzgeschichte hierzulande ein Nischendasein fristet und auf absehbare Zeit nicht den wirtschaftlichen Erfolg von Romanzyklen erreichen wird, gibt es eine kleine, stabile Leserschaft, die gerne in ständig wechselnde Welten eintaucht.
Für die diesjährige Ausgabe von VISIONEN konnte Helmuth W. Mommers wieder einige bekannte Autoren gewinnen. Einzig Desirée & Frank Hoese waren mir nicht geläufig.
Den Reigen eröffnet Rainer Erler mit "An e-Star ist born". Die Idee einer virtuell erstellten Schauspielerin, deren Original sich mit allen Mitteln gegen den Filmeinsatz ihrer Kopie wendet, ist nicht gerade originell. Die Story verläuft vorhersehbar und weist einige Klischees wie die total verwöhnte und zickige Star-Schauspielerin auf. Zudem kann man aus meiner Sicht von SF nicht mehr wirklich sprechen, denn virtuelle Schauspieler können bereits heute bei genügend technischem Aufwand und finanziellem Einsatz originalgetreu erschaffen werden.
Es folgt Thorsten Küper mit "Spiegelbild des Teufels", einer Story, die wirklich zurecht ihren Weg in diese Sammlung gefunden hat. Küper, der bereits mit Kurzgeschichten in c't, Nova und Alien Contact auf sich aufmerksam machen konnte, präsentiert hier eine Idee, die ebenfalls nicht unbedingt neu, dafür aber umso rasanter und spannender in Szene gesetzt ist. Ein skrupelloser Wissenschaftler, der in einem mittelamerikanischen Staat seinen moralisch höchst fragwürdigen Experimenten nachgehen kann, da er von der herrschenden Militärregierung gestützt wird, ist dank seiner Forschungsergebnisse in der Lage, sich eine perfekte Fluchtmöglichkeit zu schaffen. Aus der Sicht dieser 'Fluchtmöglichkeit' entwickelt sich nach und nach die Story. Die Idee ist zwar nicht neu, aber Thorsten Küper in der Lage, diese erfrischend und mit einem Auge für den inneren Aufbau einer Geschichte zu erzählen. Gerade hierin liegt das Außergewöhnliche.
"Neulich im Garten Eden" von Ernst Vlcek beleuchtet den Sündenfall aus der Sicht eines skurrilen Wesens, welches als Gärtner für die Parzelle mit dem Apfelbaum zuständig ist. Zwar mit Humor verfasst, aber nicht mehr als eine Fingerübung und einer der schwächsten Beiträge.
Ganz anders hingegen "Die fehlende Stunde" von Tobias Bachmann, der sicherlich den außergewöhnlichsten Beitrag dieser Sammlung präsentiert. Der Held der Geschichte durchlebt einen Teil der Wirklichkeit innerhalb einer kybernetischen Scheinwelt, der man sich nur schwer erziehen kann. Ähnlich einer Droge lebt man abseits der Realität in einer Scheinwelt und kann diese nicht mehr von der realen unterscheiden. Dem Leser werden die Zusammenhänge erst am Schluss klar. Zu Beginn begleitet er die Hauptfigur in seine Scheinwelt, die in sich nicht stimmig ist, und erlebt dessen krude Gedankengänge mit.
Oliver Henkel taucht in "Hitler auf Wahlkampf in Amerika" einmal mehr tief ins Genre der Alternativwelt ein. In dieser ist Adolf Hitler noch an der Macht und das amerikanische Carolina befindet sich seit den Tagen des Unabhängigkeitskriegs in preußischer Hand. Auf einer Wahlkampftour findet ein Treffen mit Al Capone statt, der von hier aus einen gut gehenden Alkoholschmuggel in die Staaten führt. Eine engere Zusammenarbeit soll für beide von Vorteil sein. Allerdings verläuft das Treffen nicht so wie geplant, und Schuld daran hat der Dolmetscher. In den etwas längeren Stories gelingt es Oliver Henkel, seine Stärken auszuspielen. Vom Stil her gibt es sowieso wenig bis gar nichts zu beanstanden, und hier nimmt er sich den Raum, damit sich seine Idee entwickeln kann. Wem seine Storysammlung "Wechselwelten" gefallen hat, der wird auch diese mögen. Oliver Henkel ist in diesem Genre fast allein auf weiter Flur.
Frank Borsch ist dank seiner Tätigkeit als Perry Rhodan-Autor einer der wenigen, die von ihrer schriftstellerischen Arbeit leben können. In "Ausgleichende Gerechtigkeit" trifft der Leser auf Harvey, das unsichtbare Kaninchen, das seinem Freund Lil bei einer gerechten Vergeltungsaktion unter die Arme greift. Der Anlass ist nichtig und genauso abstrus wie der Rest der Story. Bei dieser handelt es sich um eine mit Humor verfasste Erzählung, die mit SF nur am Rande zu tun hat und keinen bleibenden Eindruck hinterlässt.
Thomas Thiemeyer, der bereits seit Jahren in der Phantastikszene durch seine wirklich guten Bilder von sich reden macht, schaffte gleich mit seinem ersten Roman "Medusa" den Durchbruch. Vor einigen Wochen erschien mit "Reptilia" sein zweiter Roman bei Knaur im Hardcover. Beides keine SF-Werke, sondern in Afrika angesiedelte Abenteuerromane, die als Unterhaltungsromane konzipiert sind und sich überaus gut verkaufen. In "Materia Prima" bietet Thiemeyer seinen Lesern eine Entführungs- und Verschwörungsgeschichte à la Akte-X, und somit gar nichts Neues. Diese Story zählt zu den schwächeren Beiträgen der Anthologie.
Der Name Andreas Winterer dürfte dem einen oder anderen noch bekannt sein, denn im Jahre 2000 erschien mit "Cosmo Pollite" ein SF-Roman, der einiges an Aufsehen erregte. In "Cosmo Pollite und der Zwischenfall im InterStellar Express" kehrt sein sympathischer Held wieder zurück. Der Held sieht sich auf einem Sternenschiff Robotern gegenüber, die als Raumpiraten das Sternenschiff in ihren Besitz nehmen. Heldenhaft stellt er sich ihnen entgegen. Für mich die humorvollste Kurzgeschichte, die mich ein wenig an den Kinofilm "Robots" erinnert hat und völlig zurecht in diese Kurzgeschichtensammlung aufgenommen wurde.
"Planck-Zeit" von Michael K. Iwoleit, dem letztjährigen Gewinner des Deutschen Science Fiction Preises, wartet mit einem wissenschaftlichen Plot auf. Ein abgehalfterter Wissenschaftsjournalist, der unter einer Ideen- und Schreibblockade leidet, stößt bei seinen Recherchen für eine neue Artikelserie auf die ungewöhnliche Entdeckung, dass sich Naturkonstanten nicht mehr konstant verhalten, sondern innerhalb eines Bereiches schwanken, was völlig unmöglich ist. Die Story besticht u.a. durch ihren wissenschaftlich fundiert dargestellten Hintergrund (soweit man dies als Laie beurteilen kann) und die Charakterisierung ihrer Figuren, die über reichlich Ecken und Kanten verfügen. "Planck-Zeit" zählt unzweifelhaft zu den besten Geschichten dieser Sammlung.
Es folgt Marcus Hammerschmitt mit "2 hoch 64". Eine kurze Story über die Möglichkeit, dass sich die Insekten eines Tages gegen die Menschheit zur Wehr setzen. Von der Idee her nicht neu, und aufgrund der Kürze bietet sie zu wenig Raum, um sich mehr entfalten zu können.
"Weiter oder raus" von Andreas Gruber nimmt Shows wie "Dschungelcamp" aufs Korn, Shows, in denen Menschen für Geld eklige Mutproben bestehen oder ihre eigenen Ängste überwinden müssen. Gruber spitzt dies aufs Extremste zu, denn in seiner Story sind die Einsätze Teile des menschlichen Körpers. Gut getroffen wurde die Sprache des Moderators, dem man seine Rolle wirklich abkauft. Eine Story mit reichlich schwarzem Humor.
Eine Zeitreisestory präsentieren Desirée und Frank Hoese mit "Schätze der Zukunft". Die Firma TimeSave rettet längst vernichtete Kulturgüter, indem sie ihre Mitarbeiter in der Zeit zurückversetzt. Bei einer Führung wird Direktor Gregoroff auf zwei potentielle Geldgeber für seine Zeitreiseprojekte aufmerksam gemacht. Allerdings interessieren sich die beiden aus einem ganz anderen Grund als den angenommenen für die Schätze des Direktors. Ebenfalls eine kurz und prägnant formulierte Geschichte, deren Inhalt nicht gerade neu ist.
Den Abschluss bildet Frank W. Haubold mit "Die Legende von Eden". Zwei Sträflinge werden ausgesandt, um nach einem im Orionnebel verschwundenen Prospektorenschiff zu suchen. Sie finden an ihrem Zielort auch das Schiff im Orbit einer erdähnlichen Welt vor, allerdings ohne jegliche Besatzung. Im Verlaufe ihrer Ermittlungen finden sie nicht nur heraus, was aus der Besatzung geworden ist, sondern blicken hinter die Fassade des Planeten. Dabei wird ihnen eine Wahrheit zuteil, die ihr gesamtes Weltbild auf den Kopf stellt. Fans von großen Verschwörungen à la Akte-X kommen hierbei voll auf ihre Kosten. Im letzten Viertel der Story bietet Haubold seinen Lesern noch eine kurze Zusammenfassung der aus dieser Entdeckung erfolgten Geschehnisse in den darauf folgenden Jahrzehnten und rundet sie so zu einem großen Ganzen ab. Aus meiner Sicht hätte daraus auch ein längerer Roman entstehen können, und vom Aufbau her erinnert mich die Story an "Das Geschmeide" von Wolfgang Jeschke (in "Eine Trillion Euro", Bastei-Lübbe, Taschenbuch). Auffällig vom Stil her ist, dass Haubolds ansonsten sehr melancholischer Stil hier nur in Ansätzen vorzufinden ist und er sich nicht sehr von denen seiner Schriftstellerkollegen unterscheidet.
Helmuth W. Mommers ist seinem Anspruch, eine möglichst professionelle Veröffentlichungsmöglichkeit für "Profiautoren" zu schaffen, auch mit dieser Ausgabe wieder gerecht geworden. Das Autorenfeld liest sich wie das Who's who der deutschsprachigen SF-Szene. Aus meiner Sicht ist kein Beitrag, wo ich sagen würde, dass er zu Unrecht aufgenommen wurde. Vom Schriftstellerischen her gibt es eh kaum Kritikpunkte, lediglich die eine oder andere Idee hat man schon anderweitig gelesen. Dennoch dürfte jeder Leser für sich einige Highlights entdecken, und eine komplette Lektüre lohnt sich allemal.