Titel / Originaltitel: Die fünf Seelen des Ahnen Autor: Ulrike Nolte Titelbild: F. Fiedler Buchdaten: Atlantis Verlag (2006); 227 Seiten; 12,90 €; ISBN 3-936742-60-X Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Als eine furchtbare Seuche das menschliche Leben auf der Erde vernichtet, flüchten die letzten Überlebenden auf Raumschiffen ins Weltall und machen sich auf die Suche nach einer neuen Heimat. Fünfhundert Jahre später stößt eins dieser mittlerweile riesigen Generationenraumschiffe, die Arche 32, auf einen Wasserplaneten und tauft ihn auf den Namen Archensee. Die Millionen in beängtesten Verhältnissen lebenden Passagiere drängen darauf, so schnell wie möglich mit der Besiedlung zu beginnen.
Immer schon war die Langeweile eines der größten Probleme an Bord. Im Laufe der Zeit hat sich die Besatzung in unzählige "Gilden" aufgespalten, die auf ihrem jeweiligen Terrain die unterschiedlichsten Lebensweisen entwickelt haben. Arche 32 ist praktisch ein gigantisches Holodeck. Hier existiert das römische Reich neben dem Mittelalter, Einsiedlerklausen neben Südseestränden, extrem gewaltbereite Gemeinschaften neben friedfertigen. Alles ist erlaubt, solange es sich auf das Gebiet der jeweiligen Gilden beschränkt.
Serail, einer der Protagonisten des Romans, beschreibt die Atmosphäre mit den Worten "Himmel, dieses Schiff ist ein Treibhaus für Psychosen. Es ist eng, es ist laut, niemand hat etwas Vernünftiges zu tun. Man schlägt die Zeit mit Gildespielchen tot, und irgendwann fragt man sich, warum man eigentlich noch am Leben bleibt." (S. 70) Dass der allgemeine Lebensüberdruss nicht zu Unruhen ausartet, die die Sicherheit des Schiffes als Ganzen gefährden, darüber wacht die Führungscrew, und jetzt, da das Ende der langen Reise nahe scheint, wird diese Aufgabe ständig schwieriger. Attentate auf Crewmitglieder häufen sich, einflussreiche Gilden spinnen Intrigen gegen die neue Kapitänin Randori.
Diese schickt ein Forschungsteam auf die Planetenoberfläche und sieht sich schnell mit dem nächsten Problem konfrontiert: Caravan, ein Crewmitglied, verschwindet gleich beim ersten Tauchgang und kann erst Stunden später wiedergefunden werden. Bald stellt sich heraus, dass der Mann genetisch verändert wurde und - dass er gar kein Mensch ist. Caravan wurde beim Erstkontakt mit einem Vertreter der einheimischen "Ahnen" durch einen Unfall getötet. Das Wesen, das sich nun unter seinem Namen an Bord aufhält, ist ebendieser Ahne, ein Gestaltwandler, der dadurch, dass er gewohnheitsmäßig dem Menschen Zellproben entnommen hat, ebenfalls - zumindest teilweise - zu einem Menschen geworden ist.
Kapitänin Randori ist von dieser Entwicklung der Dinge zuerst gar nicht begeistert: "Das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war eine fremde Intelligenz, die sich in die Besiedlungspolitik einmischte." (S. 36) Gleichzeitig steht Caravans Ehepartner ("Getrauter") Serail vor dem verwirrenden Dilemma, dass ihm die `neue Version’ seines Liebsten immer mehr gefällt. Zu Beginn des Buches wird Serail als Narziss beschrieben, der "wie ein verantwortungsloses Kind ... die Wohnung niederbrennt, nur um sich Marshmellows zu rösten." (S. 18) Später dann bewirkt die Reue über seine Verantwortungslosigkeit - er hatte seinen Getrauten in unbekanntem Terrain allein gelassen -, dass er sein Verhalten ändert:
" ... für Caravan brachte er eine grenzenlose Hingabe auf. Zynisch wie sie war, hielt Randori das eher für Schuldbewusstsein als für partnerschaftliche Liebe. Serail hatte offenbar ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil sein Alleingang unter Wasser dazu geführt hatte, dass Caravan fast gestorben war." (S. 42)
An dieser Stelle sei angefügt, dass es der obigen Erklärung durch den Erzähler nicht bedurft hätte. Eine der kleineren Schwächen des Romans ist in meinen Augen, dass Ulrike Nolte oft Dinge erklärt, die man als Leser auch so verstanden hätte. Alles, was der Autorin wichtig erscheint, wird in klare Worte gefasst. Nichts und niemand bewahrt einen Rest an Geheimnis, und es besteht nie ein Zweifel darüber, welches Noltes Anliegen in diesem Buch sind.
Während Serail und sein ihm angetrauter Gestaltwandler die Verständigung zwischen den Spezies vorantreiben, steht Randori vor der Frage, ob sie dem Fremden vertrauen kann. Die ihr anvertrauten Menschen verlangen, dass sie ein Terraforming-Projekt forciert, um sich die Welt in guter, alter (christlicher) Manier untertan zu machen. Dabei würden allerdings wahrscheinlich die Lebensgrundlagen der Ahnen zerstört. Kann sie andererseits Wesen vertrauen, die sich nach Belieben äußerlich in jeden Gegenstand - und jedes furchterregende Monster verwandeln können? Die Art und Weise, wie die Autorin diesen Zwiespalt letztlich auflöst, dürfte jedermann aus zahllosen Filmen und Büchern bekannt sein und soll hier nicht verraten werden. Allein, diese Wendung der Dinge sorgt dafür, dass die zweite Romanhälfte um einiges routinierter, in ihren Abläufen vorhersehbarer wirkt als die erste.
Auf die Idee zu ihrem zweiten Roman brachte Ulrike Nolte u.a. das Fernsehen:
"Zu die "Fünf Seelen des Ahnen" hat mich die Figur Odo aus Deep Space 9 inspiriert. Ich fand die Idee einer Rasse von Gestaltwandlern sehr spannend, aber fand, dass man daraus mehr hätte machen können. Im Grunde lässt sich Odo’s Volk in Denken und Verhalten ja kaum von den Menschen unterscheiden. Als Gegenbild habe ich Gestaltwandler entwickelt, die möglichst fremdartig sind. Sie kopieren die Erbanlagen existierender Tierarten und leben z.B. als Insekt, Flugwesen, Wassertier ... Da alle völlig verschieden aussehen und denken, betrachten sie sich ausschließlich als Individuen, nicht als gemeinsame Rasse." [Quelle]
Die Autorin interessiert sich grundsätzlich für andere Kulturen, findet es "faszinierend, wenn man sich völlig in einer fremden Weltsicht verlieren kann." [Quelle] Daneben spielt sicher als Einfluss eine Rolle, dass Nolte die Autorin einer Neuübersetzung von Harry Martinsons schwedischem, mit dem Nobelpreis ausgezeichnetem Versroman "Aniara" ist. (Das Buch beschreibt die Geschichte eines Generationenraumschiffs, das von einer untergehenden Erde flieht, und besitzt - womöglich aufgrund der minderwertigen ersten Übersetzung - in Deutschland einen eher zweifelhaften literarischen Ruf.) Außerdem beschreibt "Die fünf Seelen" eine menschliche Gesellschaft, in der Homosexualität die Regel ist. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden auf Arche 32 schon deshalb gefördert, um die Passagierzahl nicht vollends explodieren zu lassen. Nolte gelingt es durchweg unaufgeregt, diese Beziehungen als etwas völlig Normales darzustellen. Man müsste schon extrem homophob veranlagt sein, um hier Anstoß zu nehmen.
Was an diesem Roman am meisten beeindruckt, ist jedoch unbedingt die Darstellung der Ahnenkultur. Der Romantitel, der sich umformulieren ließe in "Die fünf Inkarnationen des Gestaltwandlers", weist darauf hin, dass auch Ulrike Nolte dieses Thema am meisten am Herzen lag. Die eigentliche Romanhandlung wird fünf Mal von Geschichten des Ahnen unterbrochen, durch die er Kapitänin Randori seine Spezies erklären will. Hier erzählt `Caravan’ von früheren Existenzphasen in unterschiedlicher Gestalt. Veränderung bedeutet für die Ahnen fast alles. Wann immer sie können, erweitern sie ihr genetisches Wissen, versetzen sich in die Lebensweise anderer Wesen und verwandeln letztlich sich selbst innerlich wie äußerlich. Die Fixiertheit des Menschen auf seine einzigartige, unveränderliche `Seele’ ist ihnen gänzlich fremd. Dass die Philosophie der Ahnen bedenkenswert und ihre Welt so faszinierend exotisch erscheint, ist in meinen Augen Ulrike Noltes größtes Verdienst in diesem Roman.
Wie ich weiter oben schon einmal erwähnt habe, geht es Ulrike Nolte in diesem Roman um eine klar umrissene Palette von Themen:
- die Entwicklung einer glaubwürdigen Alienkultur;
- den aggressiven, zerstörerischen Umgang des Menschen mit der Schöpfung;
- die Werbung für die Normalität homosexueller Liebe und Sexualität;
- die Bereitschaft, sein eigenes Handeln zu überdenken, neue Wege einzuschlagen.
Wie ein äußeres Baugerüst scheinen diese Themen immer wieder die Handlung zu strukturieren, verleihen dem Plot einen etwas nüchternen, parabelhaften Charakter und lassen auch die Personen eher wie Mittel zum Zweck erscheinen. Trotzdem bleibt mein Gesamteindruck sehr positiv: Wenn Ulrike Noltes Werk auch über weite Strecken keine poetischen Ambitionen verrät, erspart es dem Leser doch andererseits jedwede stilistische Peinlichkeit. "Die fünf Seelen des Ahnen" braucht keinen Vergleich zu scheuen mit den meisten bejubelten Werken angelsächsischer Herkunft. Ich fühlte mich von der ersten bis zur letzten Seite intelligent unterhalten.
Die fünf Seelen des Ahnen - Rezensionsübersicht