Eine Rezension von Gloria Manderfeld |
Jeder Mensch wird von der Taufe an von zwei Engeln begleitet, einem lichten und einem dunklen. Sie stehen diesem Menschen unsichtbar zur Seite, verfolgen jede seiner Entscheidungen und versuchen, das Herz des Menschen still zu beeinflussen, auf dass sie diesen im Augenblick des Todes zur Erlösung oder der ewigen Verzweiflung führen können. Auch der als irr geltende Jeásh hat zwei Engel-Begleiter, doch nach einem missglückten Selbstmordversuch unterscheidet er sich grundlegend von anderen Sterblichen: Er kann seine beiden Engel sehen. Doch über dieses seltene Wissen muss er schweigen, denn die Kirche der 'Herrin' in Jeáshs Heimatstast Toch Eleth duldet keine derartigen Auswüchse.
Als der lichte Engel Malach sein Herzblut für Jeásh opfert, um dessen Leben zu retten, erweist sich der Sterbliche als weitaus weniger dankbar, als Malach es erwartet hatte. Noch immer innerlich dem Wunsch nach dem Tod nahe, erscheint Jeásh dem lichten Engel als ein Sinnbild für die verwirrte, verlorene Natur der Menschen.
Er kehrt sich schließlich ganz von seinem Schützling ab, seelenwund durch das verlorene Herzblut, welches ein Engel einem Menschen nur ein einziges Mal innerhalb seiner Existenz schenken kann. Während Malach zu einem nach dem Lebensblut anderer Engel gierenden Verlorenen wird, muss der verbliebene, schwarze Engel Ezariel die Sorge um den verzweifelten Jeásh alleine übernehmen.
Als Ezariel feststellt, dass Jeásh ihn sehen kann, müssen sich beide gemeinsam der veränderten Situation stellen – Malach versucht, Jeásh zu töten, um auch an dessen Lebensblut zu gelangen. Nun gilt es herauszufinden, wie der gefallene Engel besiegt werden kann, und die ungleichen Reisegefährten Jeásh und Ezariel verlieben sich ineinander, was Engeln und Menschen streng verboten ist. Auch das Jeásh umgebende Geheimnis muss gelöst werden, damit Malach Einhalt geboten werden kann …
Wie der Titel vermuten lässt, liegt der Schwerpunkt dieses Buches auf dem Verhältnis zwischen Jeásh und seinen Engeln. Doch auch das Innenleben Jeáshs erhält sehr viel Gewicht, was die Lektüre gerade zu Beginn der Erzählung sehr zäh gestaltet, da der Grund für Jeáshs Todessehnsucht nur zart umrissen wird und der Leser sich die ganze Zeit die Frage stellen muss, wieso dieser junge Mann an seinem Leben derart verzweifelt, dass er sich zuerst umbringen will und dann immer wieder selbstzerstörerisch zu Werke geht. In all der inneren Tragik fällt es leider auch schwer, eine richtige Beziehung zu diesem Charakter aufzubauen, sodass die ihn begleitenden Engel und deren Erlebniswelt weitaus interessanter erscheint.
Hinter der zentralen Geschichte Jeáshs und seines Geheimnisses bleibt die Gestaltung der Welt leider weit zurück. Man erfährt immer wieder einige Detailfetzen zur Stadt Toch Eleth und der dort einen sehr großen Einfluss ausübenden Kirche, einige Glaubensstatuten spielen ebenso wie eine gewisse Ordnung von Himmel und Hölle eine Rolle. Doch um sich in diese Welt wirklich hineindenken zu können, fehlt der tiefere Einblick in die angedeutete Dystopie. Neben Jeásh und Ezariel bleiben viele andere Figuren blass, auch die Beziehungen, die Jeásh im späteren Verlauf der Erzählung zu anderen Charakteren aufbaut, werden in einer Geschwindigkeit abgehandelt, dass man glauben könnte, die Autorin hätte sich auf derlei nicht konzentrieren wollen.
Überhaupt ist das Ungleichgewicht zwischen exzessiv geschilderten inneren Entwicklungen Jeáshs und der äußeren Handlung, der Reise Ezariels, Jeáshs Lehre im Kloster und die Flucht vor Malach sehr deutlich und hier viel ungenutztes Potential zurück. Die Verliebtheit zwischen Mensch und Engel sowie Jeáshs spätere Hinwendung zu einer anderen Person kommt recht plötzlich, wird eher in Nebensätzen geschildert, sodass man ein wenig von den Ereignissen überrascht wird. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit mehr als Jeáshs Lebensgeheimnis und den daraus resultierenden Folgen bleibt zudem vollkommen aus.
Es ist mir als Rezensent sehr schwer gefallen, mit diesem Buch überhaupt warm zu werden. Das liegt nicht an fehlender Action, sondern an der Neigung der Autorin, fast alles mit einer Vielzahl an Beschreibungen zu garnieren.
So fällt der Einstieg in die Geschichte ziemlich schwer, während sich nach etwa hundert Seiten langsam etwas mehr Tempo aufzubauen beginnt. Dies wäre für mich jedoch in der Buchhandlung kein Grund, das Buch mitzunehmen, da für mich die ersten Seiten zum 'hineinlesen' entscheidend sind und diese mich nicht fesseln konnten - ganz zu schweigen vom Preis, der mir für ein 200-Seiten-Buch etwas überdimensioniert erscheint.
Dabei ist das sprachliches Niveau der Autorin durchaus hoch zu nennen, ausgesprochen lyrisch an vielen Stellen – doch auch poetische Umschreibungen sind ein Stilmittel, das man nicht überstrapazieren sollte, da der Leser früher oder später den Faden verliert und in Versuchung kommt, die Umschreibungen in der Hoffnung auf Handlung zu überlesen.
Positiv fällt an 'Der Engelseher' auf, dass die Auseinandersetzung zwischen gut und böse nicht auf radikaltheologischem Niveau geführt wird, sondern viel eher philosophische Ansätze zeigt, die sich mit dem persönlichen Erfahrungshorizont der Handelnden verknüpfen. Die Erzählung birgt viele interessante Ansätze, doch auch viel zu viel verschenktes Potential. Mehr Raum hätte die Geschichte sicherlich verdient, vor allem im Hinblick auf die beschriebene Welt wäre noch mehr drin gewesen, so bleibt es leider nur bei einem unbefriedigenden Leseerlebnis.
Fazit: Ungewöhnliche Liebesgeschichte in ungewöhnlicher Welt, die leider hinter ihrem Potential weitgehend zurückbleibt. Nur für Hardcore-Engel- und Man/Man-Lovestory-Fans zu empfehlen. Vier von zehn möglichen Sternen.