Titel: Der Schatten des Windes Eine Besprechung / Rezension von Karsten Kruschel |
„Der Schatten des Windes“, so vermeldet stolz der Klappentext, war Buch des Jahres 2002 in Spanien, Lieblingsbuch der Leser zudem. Warum dieses Buch in Spanien ein veritabler Erfolg war und auch hierzulande so manchen Fürsprecher fand, wird jedem Leser spätestens dann klar, wenn er feststellt, daß die süchtigmachende Wirkung dieser komplizierten Geschichte auch ihn selbst erfaßt hat: Nachtruhe wird verschoben, solange nicht wenigstens die nächste unglaubliche Wendung der Geschichte gelesen worden ist ... und sich sogleich die nächste ankündigt.
Worum es in diesem erstaunlichen Buch geht, ist rasch umrissen (und eigentlich ist eine zutreffende Inhaltsangabe unmöglich, wie jeder weiß, der es gelesen hat). Alles geht zurück auf jenen Tag, da ein elfjähriger Junge namens Daniel Sempere von seinem Vater mitgenommen wird zum Friedhof der vergessenen Bücher in der Altstadt von Barcelona. Hier darf Daniel sich ein Buch aussuchen, eines, das nur ihm allein gehört. Seine Wahl fällt auf „Der Schatten des Windes“ von einem völlig unbekannten und überwältigend erfolglosen Autor, dessen Bücher offenbar äußerst gesucht sind. Doch dieses Buch schlägt den Jungen nicht einfach nur in seinen Bann – es beginnt sein ganzes Leben zu beherrschen, was mit der Tatsache zusammenhängt, daß irgendjemand versucht, alle noch irgendwo existierenden Exemplare aller Bücher dieses Autors zu vernichten ...
Im Internet gibt es eine Zusammenfassung der gesamten Handlung, die allen Wendungen getreulich folgt und nur allzu deutlich macht, warum man genau solche Zusammenfassungen meiden sollte, zumal in diesem Fall. Eine Reduzierung von „Der Schatten des Windes“ auf bloße Abläufe nimmt der Sache jeglichen Reiz (und ist etwa so, als würde man Góreckis "Sinfonie der Klagelieder" als eine gigantische Ansammlung vom Moll-Akkorden beschreiben).
Am Ende des Buches (desjenigen, das hier besprochen wird, aber denselben Titel trägt wie das von Daniel erwählte Buch) geht ebendieser, mittlerweile erwachsene, Daniel Sempere mit seinem eigenen Sohn an der Hand zum Friedhof der vergessenen Bücher. Der Dialog zwischen den beiden stimmt fast wortwörtlich mit dem Dialog aus der Eröffnungsszene überein – nur die mitgedachten Bedeutungen sind völlig andere.
Und dennoch geht all das meilenweit an dem Erlebnis vorbei, das „Der Schatten des Windes“ für den Leser bereithält. Denn der Junge sucht sich nicht nur einfach so das Buch aus. Es ist vielmehr das Buch, das sich seinen Menschen erwählt. Und das hat nichts zu tun mit irgendwelchen mystischen Geheimnissen. Es folgt einer inneren Logik. Denn das Leben des geheimnisvollen Autors ist bereits von Anfang an mit dem Leben des nichtsahnenden Knaben verwoben.
Eben dieses Verwobensein von literarischer Fiktion und wirklichem Leben ist es, die den gesamten Roman bestimmt und den Leser atemlos von Seite zu Seite stürzen läßt. Dabei scheut der Autor vor kaum etwas zurück, das man aus diversen schaurigen Romanen kennt, seien sie hochliterarisch oder eher dem Reich des Reißers zuzuordnen. Bei Carlos Ruiz Zafón gibt es derlei künstliche Unterscheidungen nicht. Wenn die Geschichte ein düsteres, leerstehendes Haus mit im Keller eingemauerten Särgen erfordert, her damit. Wenn Bedarf an ebenso mächtigen wie abgrundtief schlechten Bösewichtern besteht, so kann Zafón auch hierfür ein wahres Prachtexemplar liefern – und zwar mitsamt einer völlig überzeugenden und gänsehauterzeugenden Geschichte, warum gerade dieses Scheusal ein solches außerordentliches Scheusal wurde (ebenso wie auch die eingemauerten Särge eine völlig akzeptable Erklärung finden).
All das stürzt nicht etwa aus einem unendlich belastbaren Orkus übernatürlicher Phänomene herab (so wie es in manchen Romanen Stephen Kings geschieht), sondern entsprießt einer fest in der Wirklichkeit verankerten Historie. In diesem Fall handelt sich sich um die spanische Geschichte mit ihren blutigen und grausamen Wendungen – der Aufstieg und Fall der Republik, der Bürgerkrieg mit seinen ineinander verschachtelten Gemetzeln, die erstickende Herrschaft des Generals Franco, das beredte Schweigen angesichts all der Verschwundenen und Geschändeten...
Ein anderes Pfund, mit dem Zafón zu wuchern versteht, ist die Atmosphäre und die Geschichte der Stadt Barcelona. Vielleicht gibt es bald Schatten-des-Windes-Stadtführungen in der katalanischen Metropole, ganz so, wie man sich Jonathan-Carroll-Stadtführungen in Wien vorstellen könnte. Die Stadt Barcelona wird bei Zafón sehr schnell zu einem so rätselhaften, mit alten Geheimnissen vollgesogenen Ort, daß man ihr die Existenz eines Friedhofs der vergessenen Bücher klaglos zu glauben bereit ist.
Die historisch verbürgte Geschichte Spaniens – und Barcelonas – bietet ein so großes Reservoir an Finsternis und grausigen Geheimnissen, daß Zafón kaum dazu genötigt wird, in die Mottenkisten der phantastischen Literatur zu greifen. Er tut es tatsächlich nur ein einziges Mal, aber diese eine Mal gibt seinem ganzen schillernden Buch die Daseinsberechtigung und Initialzündung (auch wenn der Autor immer wieder mit dem Phantastischen spielt). Natürlich handelt es sich dabei um den Friedhof der vergessenen Bücher, den sich Umberto Eco auch nicht besser hätte ausdenken können; das Bild dieser geheimnisvollen Bibliothek indes könnte auch das gewisser abgelegener Stellen jenes Labyrinths von Ankh-Morpork sein, in dem ein gewisser, nicht ungelehrter Orang-Utan seinen Dienst versieht.
Und schon sind wir bei einem weiteren Aspekt von „Der Schatten des Windes“, den hier nicht zu erwähnen fahrlässig wäre: Carlos Ruiz Zafón verfällt nicht in den Fehler, seine mehrfach in sich selbst verwickelte Geschichte in völliger Ernsthaftigkeit darzubieten. Stattdessen träufelt er homöopathische Dosen einer sehr angenehmen Selbstironie in sein Gebräu. Manchmal läßt er schräge Vergleiche in eigentlich todernste Passagen fallen („Er warf Bea einen Blick zu, als hätte er gerade eine brennende Dynamitpatrone zu ihren Füßen entdeckt“), oder er ironisiert seinen eigenen Helden („Sei doch nicht ganz so danielig!“), der in mehr als einer Situation mit seiner entwaffnenden Naivität wenn nicht brilliert, so doch ungeahnte Ergebnisse erzielt. Und so ist es wohl keine Überraschung, wenn einem dieser grünschnäblige und doch manchmal weise junge Mann so ans Herz wächst, daß man ihm atemlos auch noch in die letzte Verästelung eines unglaublichen Buches folgt und nach der Überraschung der letzten Szene sogleich versucht ist, diesen Roman noch einmal zu lesen, um dieses Mal auch wirklich alle Raffinessen zu entdecken, die man in der Atemlosigkeit des ersten Lesens übersehen haben könnte. Gute Idee, übrigens.
Karsten Kruschel
(zuerst erschienen in: Das Heyne Science Fiction Jahr # 19. Ein Jahrbuch für den Science Fiction Leser. Ausgabe 2004, herausgegeben von Sascha Mamczak und Wolfgang Jeschke, Heyne Verlag, München 2004, S. 933–936)
Anmerkung: Inzwischen gibt es tatsächlich Zafón-Stadtführungen in Barcelona.