Titel: Der Kinderdieb Eine Besprechung / Rezension von Andreas Kurth |
Wer von uns hat nicht in irgendeiner Verfilmung die Geschichte von Peter Pan gesehen, sei es als Zeichentrick-Version, oder mit dem begnadeten Robin Williams in „Hook“. Es geht immer darum, dass die Kinder auf der „Neverland-Insel“ nicht erwachsen werden wollen, sondern sich ihre kindliche Unbeschwertheit bewahren. Zwar wird gegen die Piraten gekämpft, aber in allen Fassungen ist das Ganze durchaus jugendfrei. Das sieht in der hervorragenden Neu-Adaption des Stoffes durch Brom schon ganz anders aus. Angesichts seines beruflichen Werdegangs ist es aber auch keine Wunder, dass der Autor kräftig Blut fließen lässt. Freunde der High- und auch der Urban-Fantasy kommen also auf ihre Kosten. Der Autor erklärt das auch in einer Nachbemerkung. Er hat die nicht bereinigte Urfassung von James Barrie gelesen, „und lernte zu schätzen, was für eine wunderbar gefährliche und zuweilen auch grausame Gestalt Peter Pan eigentlich ist.“
Das Buch ist zudem keine reine Neufassung des Peter-Pan-Themas, sondern Brom greift etliche Elemente der Artus-Sage auf. Das beginnt beim Ort der Handlung, der von magischem Nebel umwaberten Insel Avalon, setzt sich in zahlreichen Figuren fort und macht beim magischen Schwert Caliburn noch lange nicht halt.
Die Handlung beginnt unverfänglich - leise wie ein Schatten streift ein merkwürdiger Junge durch die Straßen von New York. Er nennt sich Peter und ist auf der Suche nach Kindern. Ausreißern, die Hilfe brauchen, die aus irgendwelchen Gründen nicht mehr nach Hause zurück können oder wollen. Er erschleicht sich ihr Vertrauen oder hilft ihnen aus scheinbar ausweglosen Situationen, um sie dann mit seiner unbekümmerten und sympathischen Art zu „verzaubern“. Er bietet ihnen an, mit ihm zu kommen in ein magisches Reich - auf die Insel Avalon.
Nick folgt Peter als eines der letzten Kinder in den Nebel. Doch schon unterwegs findet er, dass es eine sonderbare Idee ist, dem goldäugigen Jungen mit den spitzen Ohren zu folgen. Aber seine Neugier auf die Insel, auf das Land, wo Kinder angeblich nicht erwachsen werden, war zu verlockend. Und im Nebel ist es zu gefährlich, um alleine den Rückweg anzutreten. Erst später merkt Nick, dass Peter ihm nur die halbe Wahrheit gesagt hat, warum er ihn wirklich mitnahm, und dass man in Avalon durchaus noch einiges zu verlieren hat.
Er landet zunächst bei den „Teufeln“, dem Clan, den Peter vor vielen Jahren gründete. Im gesamten Buch gibt es zahlreiche Rückblenden, die zum Teil Peters halb-magische Herkunft erklären und die vor allem die aktuellen Verhältnisse auf der Insel verdeutlichen. Es gibt mehrere voneinander strikt getrennte „Reiche“. Den Süden, wo die Fleischfresser ihr Unwesen treiben. Das sind Menschen, die mit ihren Galeonen auf der Insel landeten, als die Dame Modron den Nebel vorübergehend zurückgezogen hatte. Durch die Magie der Insel sind sie inzwischen zu Monstern mutiert - und bedrohen Avalon in seiner Existenz. Dann den von der Hexe Ginny Grünzahn beherrschten Sumpf, das Tal der Dame, einen neutralen Mittelteil und den Wald der Teufel.
Während Nick und andere Neuankömmlinge gerade erst zu vollwertigen Kämpfern des Clans ausgebildet werden, eskaliert die Lage auf der Insel. Die Fleischfresser sind in die Offensive gegangen und brennen den magischen Flüsterwald nieder. Wenn sie dieses letzte Hindernis überwinden, ist der Weg in den Wald der Teufel und das Tal der Dame für sie frei - und Avalon verloren. Peter versucht die aus Elfen bestehende Leibgarde der Dame Modron für ein Bündnis zu gewinnen, wird aber von Ulfger, dem Sohn des „Gehörnten“, brüsk zurückgewiesen - die Folge eines uralten Kompetenzstreits, der nie gelöst wurde. Ulfger erlaubt niemandem, zur Dame vorzudringen, dabei spüren Peter und andere Freunde der Dame, dass ihre Kraft schwächer wird und Avalon in ernster Gefahr ist. Die Teufel stellen sich den Fleischfressern entgegen, nur unterstützt von einer Hand voll Elfen, die Ulfger den Gehorsam verweigern. Es kommt zur Schlacht im Flüsterwald - die ernste Folgen hat.
Viel mehr sei an dieser Stelle - aus dramaturgischen Gründen - nicht verraten. Nur soviel: Die Ereignisse überstürzen sich, mehrfach wendet sich das Schicksal, atemlose Spannung fesselt den Leser bis zur letzten Seite - und einem höchst überraschenden Finale.
Fazit: „Der Kinderdieb“ ist ein ausgezeichnetes Buch. Entweder hat der Autor die Handlung zuvor perfekt durchkonstruiert oder er hat sich selbst vom Ende inspirieren und überraschen lassen. Wie auch immer, beim Lesen drängt es einen immer weiter, weil die Lage sich aufs Neue wendet oder scheinbar auf eine Lösung zustrebt, nur um neuen Komplikationen Platz zu machen. Die Gestalt des Peter ist dabei so widersprüchlich geraten, wie es Brom in seinem Nachwort einräumt. Manchmal ein verspielter Kindskopf - und dann wieder ein brutaler Machtmensch. In jedem Fall macht die Lektüre auch nachdenklich, denn es gibt viele Einblicke in Gruppendynamik und persönliche Tragödien.
Perfekt wird die Ausgabe aus dem PAN-Verlag durch die nette Übersichtskarte und vor allem dadurch, dass jedes Kapitel mit einer Grauzeichnung aus der Feder von Brom eingeleitet wird. Hinzu kommen einige Farbdrucke in der Mitte des Buches, wo die Hauptprotagonisten abgebildet werden. Also nicht nur ein spannendes, sondern auch ein aufwändig gestaltetes und schönes Buch.
Brom, Jahrgang 1965, wurde in Albany im amerikanischen Bundesstaat Georgia geboren. Da sein Vater Pilot bei der U.S. Army war, verbrachte Brom einen Teil seiner Jugend im Ausland, unter anderem in Japan und Deutschland, wo er auch zur Schule ging. Aus dieser Zeit rührt auch seine Angewohnheit her, seinen Vornamen nicht zu benutzen. Bereits mit 21 arbeitete Brom als Illustrator für Firmen wie Coca-Cola und IBM. Wenige Jahre später begann er, sich auf die visuelle Umsetzung von Rollenspielen wie „Dungeons & Dragons“ und anderen Fantasywelten zu konzentrieren; er schuf außerdem Sammelkarten für Spielsysteme wie „Magic: The Gathering“ und arbeitet für zahlreiche Verlage und Computerspielhersteller. Brom hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht und lebt heute mit seiner Familie in Seattle.