| Serie: ~ Rezensierte Ausgabe: Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Im Juni 1863 versuchte General Robert E. Lee den amerikanischen Bürgerkrieg in das Gebiet der Nordstaaten zu verlagern und drang mit seiner Armee bis nach Pennsylvania vor. Am 1. Juli begann bei dem kleinen Ort Gettysburg 100 km nördlich von Washington eine Schlacht, bei der sich 150000 Soldaten gegenüberstanden. Am Abend des 3. Juli war die Schlacht für die Konföderierten nach einem unsinnigen Frontalangriff verloren, insgesamt 50000 Menschen hatten ihr Leben gelassen und die Niederlage des Südens war endgültig absehbar.
Dabei hing der Ausgang des Gemetzels für die Unionstruppen zwischenzeitlich an einem seidenen Faden. In der Geschichtsschreibung, wie wir sie kennen, missachtete ein unfähiger Unions-General den Befehl, den strategisch entscheidenden Hügel Little Round Top am Südende der Frontlinie zu besetzen. Als sein Versagen offenbar wurde, gelang es praktisch in letzter Minute dem 20. Regiment von Maine unter Colonel Joshua Chamberlain, in einem wahren Wettlauf als erste die Hügelkuppe zu erreichen - und anschließend den ganzen Tag gegen zahlenmäßig mindestens zehnfach überlegene feindliche Kräfte zu halten. Chamberlain erkämpfte sich an diesem Tag seinen Platz in den amerikanischen Geschichtsbüchern.
In Ward Moores Roman Der große Süden gewannen die Konföderierten den Wettlauf, die Schlacht und bald auch den Krieg. Als Folge dessen sind die Konföderierten Staaten im 20. Jahrhundert eine Weltmacht - und der durch Reparationszahlungen ausgeblutete Norden auf den Stand eines Entwicklungslandes herabgesunken, in dem die meisten Menschen sich in Kontraktknechtschaft ein kärgliches Auskommen erarbeiten müssen.
Moores Buch ist die nüchterne, selbstkritische Lebensbeichte von Hodge Backmaker. Sie beginnt mit den Worten "Obwohl ich dies im Jahre 1877 niederschreibe, wurde ich erst 1921 geboren." Bei diesem Satz vermutet der Leser sogleich, einen Zeitreiseroman vor sich zu haben. Damit liegt er im Prinzip richtig, eigentlich aber völlig falsch, denn im Mittelpunkt von Moores Roman stehen andere Themen.
1938 ist Hodge Backmaker siebzehn Jahre alt. Der Junge liebt Bücher und ist ein Hans-guck-in-die-Luft mit zwei linken Händen. Weil er vermutet, dass er für seine hart arbeitenden Eltern in dem kleinen Dorf nahe New York ein Klotz am Bein ist, tut er das, was er sonst meist vermeidet: Er trifft eine Entscheidung und handelt. Hodge wandert in die Großstadt, wird sogleich ausgeraubt und findet für die folgenden sechs Jahre eine - unbezahlte - Anstellung in der Buch- und Papierhandlung von Roger Tyss. Diese sechs Jahre füllen die erste Hälfte von Der große Süden. Hier bereits erweist sich das Buch formal als Bildungsroman, in dem der älter gewordene Erzähler Rechenschaft ablegt über sein Leben im 20. Jahrhundert.
Bei einem Alternativweltroman - was das Buch offensichtlich ja auch ist - erwartet der Leser eigentlich detailliertes "World building". Genau das jedoch findet sich hier nicht. Moore skizziert lediglich in groben Strichen das Amerika seines Ich-Erzählers. Und die wenigen Einzelheiten, die er erwähnt, erscheinen oft noch unwahrscheinlicher als die Niederlage der Union im Bürgerkrieg: Sein New York von 1940 etwa kennt weder Flugzeuge noch das Telefon, weil die Gebrüder Wright und (der heute als Plagiator entlarvte) Alexander Graham Bell (er stahl seine wichtigste Erfindung einem Italiener!) nie als Forscher wirken konnten.
Ward Moore geht es in seinem Roman um andere Themen. Das Buch durchzieht als Leitfaden die Frage nach der Bedeutung und Möglichkeit von moralischem Handeln. Daneben beschreibt Moore Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau.
Seinen Protagonisten lässt er auf zwei Lehrertypen treffen, die die Moralfrage von diametral entgegengesetzten Positionen aus quasi in einem Fernduell ausdiskutieren. Zuerst ist da Hodges Arbeitgeber Roger Tyss, eine schillernde Figur, die den Leser eine Zeit lang ob ihrer widersprüchlichen Exzentrik fasziniert. Tyss ist einerseits ein außerordentlich gebildeter Mann - und Revolutionär; andererseits hängt er einem deterministischen Weltbild an, das ihm alles als vorherbestimmt - und damit letztlich sinnlos - erscheinen lässt. Literatur ist ihm Zeitvergeudung, Moral lächerlich. In einem Akt des Exorzismus wählt er zu seinem `täglich Brot' ausschließlich Rinderherz. Kein Überbleibsel an sentimentaler Symbolik soll ihn beeinflussen. Gleichzeitig macht er Anleihen bei Shakespeare (genauer gesagt: Macbeth V,5), wenn er doch eigentlich Hodges Idealismus verspotten will:
"Es gibt keinen Autor; das Buch des Lebens ist ein Wirrwarr durcheinandergefallenen Satzes, eine Geschichte, die ein Idiot stammelt, voller Lärm und Wut, aber ohne Bedeutung." [S. 52]
Leider darf sich Tyss nie zu einem echten Charakter entwickeln. Zu offensichtlich ist seine Rolle darauf beschränkt, eine krude und in dieser Radikalität lächerliche Philosophie zu vertreten. Auf Seite 77 bemitleidet Hodges zweiter Lehrer den Buchhändler mit den Worten "Der arme Mann! Er hat sich vom Aberglauben der Religion befreit, um einem anderen Aberglauben zum Opfer zu fallen ... der Mensch eine Art mechanischer Gliederpuppe, ... dieselben Handlungen und Bewegungen für alle Zeit immer und immer wieder zu tun. Ich sage dir, Hodge, das ist monströs." Mit dieser Einschätzung senkt sich rasch der Vorhang über Roger Tyss.
Hodges zweiter Lehrer heißt René Engadin und ist der (dunkelhäutige) Konsul der Republik Haiti. Auch er bleibt als Figur blass, ist nur dafür vorgesehen, als Gegenpol zu Tyss den freien Willen des Menschen sowie die Wichtigkeit moralischen Handelns zu betonen. Er führt seinem Schüler vor Augen, dass auch Nichtstun eine Entscheidung ist, die Konsequenzen nach sich zieht. Wie Hodges Eltern wird er irgendwann aus dem Buch verschwinden, ohne dass Hodge eigene Anstrengungen unternimmt, den Kontakt wiederherzustellen.
Wenn ich Moores Werk weiter oben als Bildungsroman beschrieben habe, so deshalb, weil es beschreibt, wie ein junger Mann in die Welt hinausgeht und Erfahrungen sammelt, aus denen er lernen kann. In diesem Punkte allerdings unterscheidet Moores junger Held sich von vielen klassischen Vorbilder: Trotz allem, was er erlebt - ändern wird sich Hodge nie. Dass er in philosophischen Dingen fest auf Engadins Seite steht, ist immer klar; und schon als Heranwachsender weiß er, dass er einmal Wissenschaftler werden möchte. Gleiches gilt für seinen Charakter: Hodge Backmaker wird im Verlaufe der Buches wiederholt als "Zuschauer" beschrieben, dem sein Leben zustößt. Hodge ist kein schlechter Mensch, und doch arbeitet er jahrelang für ein Mitglied der sogenannten "Großen Armee", einer rassistischen Terrororganisation der Nordstaaten, für die dem Autor offensichtlich der Ku-Klux-Klan als Vorbild diente. Erst als sein Leben bedroht ist, gibt Hodge seine Stelle bei Roger Tyss auf und verlässt 1944 New York.
Immer wieder in dieser Geschichte handelt Hodge erst, wenn er nur noch einen Ausweg sieht, und lässt ansonsten den Dingen seinen Lauf. Dies wirkt sich drastisch auf seine Beziehungen zu Frauen aus. Die Beschreibung seiner langjährigen Hassliebe zur New Yorker Dienstmagd Tirzah Vame bzw. später der genialen Physikerin Barbara Haggerwells stellt das Interessanteste dar, was das Buch dem Leser zu bieten hat. Hodge lässt sich mit den beiden Frauen ein, weil sie ihm über den Weg laufen und seine Hormone auf sie ansprechen. Und dann verliebt er sich in sie, weil das die menschliche Disposition so vorsieht. Mit 'Seelenverwandtschaft' hat das nichts zu tun. Mehr mit Gewöhnung - und wahrscheinlich der Tatsache, dass das unterkühlte Verhalten seiner Geliebten die jeweilige Beziehung auch nach Jahren noch als gefährdet (und damit erstrebenswert) erscheinen lässt. Das Auf und Ab in Hodges romantischen Beziehungen, zwischen Liebeskummer, Sex und Überdruss, wird ganz bestimmt vielen Lesern vertraut vorkommen, auch wenn die Frauen im Leben des jungen Mannes letztlich überzeichnet wirken.
Was bleibt im Gedächtnis haften nach der Lektüre - neben der vergeblichen Liebesmüh’? Vor allem ein Protagonist, der so durchschnittlich ist 'wie du und ich' und der in entsprechender Manier aus seinem Leben erzählt. Es bleiben in Erinnerung die letzten Seiten des Buches, die schon deshalb manche Leser anrühren werden, weil in ihnen viel Zeit vergeht. Und es bleibt in Erinnerung das grobe Gerüst aus Moral und freiem Willen, aus dem Ward Moore seinen Roman zusammengezimmert hat, ohne seinem Publikum je mehr als triviale Botschaften zu vermitteln. Unter dem Strich ist das unbefriedigend.
Fußnoten zum Schluss:
1. Von einem Gedankengang in dem Roman war ich dann doch beeindruckt, und zwar sagte René Engadin (auf S. 76): "Für den Gläubigen ist Skeptizismus notwendig. Wie sollte er falsche Götter von den wahren unterscheiden, wenn er nicht an beiden zweifelte?"
2. Das Titelbild der Ausgabe von 2001 hat nichts mit dem Inhalt des Buches zu tun.
3. Ich glaube nicht, dass der Ausgang der Schlacht von Gettysburg von entscheidender Bedeutung war. Der amerikanische Bürgerkrieg war der 'industrielle Konflikt' zwischen zwei Gegnern, von denen nur einer über fast unbegrenzte Ressourcen verfügte. Nach Gettysburg ernannte Präsident Lincoln mit Ulysses Grant einen Mann zum Oberkommandierenden, der diesen Sachverhalt begriffen hatte. In monatelangen Kämpfen führte er eine riesige Armee vor die Tore Richmonds, der Hauptstadt der Konföderation. Wie seine Vorgänger verlor er auf dem Weg die meisten Schlachten - und weitere 100000 Mann -, im Gegensatz zu General Lee jedoch, dessen Soldaten zerlumpt und hungernd durch die Gegend stapften, konnte er stets alle Lücken mit neuem 'Menschenmaterial' auffüllen.
Die einzige Hoffnung der Konföderation im Bürgerkrieg bestand darin, dass der Norden irgendwann des Mordens müde werden bzw. Lincoln an seiner Wiederwahl 1864 scheitern würde. Ein militärischer Sieg des Südens dagegen war immer nur ein Wunschtraum: 75 Verteidigungsforts machten Washington zur wahrscheinlich bestgeschützten Stadt der Welt. Als kurz vor Kriegsende der Südstaaten-General Jubal Early versuchte, als Entlastung für den bei Richmond bedrängten Lee ein einziges davon mit einer Armee von 10000 Mann einzunehmen, scheiterte er.
Der große Süden - die Rezension von Rupert Schwarz