Titel: Der fünfte Kopf des Zerberus |
Fifth Head of Cerberus ist eine Sammlung von 3 Novellen, die scheinbar nur lose miteinander verbunden sind. Die titelgebende erste Geschichte erzählt an der Oberfläche von einer mysteriösen Vater-Sohn-Beziehung. Der Vater setzt seinen Sohn Nummer 5 abends unter Drogen und verhört ihn. Erst viel später erfährt man, was für eine Beziehung die beiden genau haben. In der Zwischenzeit versucht Nummer 5, ein normales Leben zu führen. Er lebt auf dem fremdartigen Planeten Sainte Croix und seine Familie gehört zur gehobenen Klasse. Von den ursprünglichen Einwohnern ist keiner mehr übrig geblieben und die französischen Eroberer wurden selbst besiegt und leben größtenteils als Sklaven. Die Beschreibung der Gesellschaft hat mir sehr gut gefallen. In einem SF-Roman rechnet man nicht mit einer so genauen, brutal offenen Sezierung.
Die Geschichte selbst ist sehr eindringlich geschrieben. Man spürt förmlich die Anspannungen in der Familie und kann die Luft von Sainte Croix riechen. Es scheint aber immer ein Detail zu fehlen, um sich komplett einen Reim auf die Ereignisse bilden zu können.
In der zweiten Geschichte, die einfach "A Story, by John V. Marsch" heißt, geht es um die scheinbar ausgestorbenen Ureinwohner, die Annese oder auch Freien Menschen. Ich hatte mir mehr Probleme gemacht als notwendig, weil ich die Annese als homogene Gemeinschaft gesehen habe. Das sind sie nicht. Sie sind zersplittert in verschiedene Stämme mit einigen Unterschieden. Wir begleiten den Protagonisten John Sandwalker auf einer Reise, auf der ihm viele eigenartige Gestalten begegnen. Selten gelingt es einem Autoren, die Fremdartigkeit so deutlich zu vermitteln und einfach die Geschichte zu erzählen. Dadurch gibt es zwar einiges Stirnrunzeln, was für einen Sinn bestimmte Ereignisse haben, aber der Fluss stimmt einfach und man fühlt sich miteinbezogen. Sehr eindrucksvoll!
Das führt uns direkt zur letzten Geschichte, "V.R.T.". Im Gegensatz zu den anderen beiden Geschichten ist diese nicht-linear geschrieben, mit einigen Sprüngen in der reichlich kafkaesken Handlung. Der Wissenschaftler John Marsch wird im Gefängnis festgehalten, ohne dass er erfährt, was ihm überhaupt vorgeworfen wird. Er schreibt seine Geschichte auf und erzählt sie während zahlreicher Interviews. Er hat sich stark mit den angeblich verschollenen Ureinwohnern beschäftigt. Auf seinen Reisen hat er viel zusammengetragen, der Höhepunkt ist aber eine Expedition mit einem Halb-Annesen auf den Spuren vergangener heiliger Plätze. Die Rahmenhandlung ist verstörend. Ein junger französischer Offizier liest sich die Aufzeichnungen durch, um ein Urteil zu fällen, ob John Marsch weiter in Haft bleiben soll. Wie er sich benimmt, zeichnet ein bezeichnendes Bild der Gesellschaft. Zwischendurch werden Anspielungen auf die beiden vorhergehenden Geschichten gemacht, und erst ein zweites (oder drittes) Lesen erschließt die Zusammenhänge. Beim ersten Mal bleibt noch vieles im Unklaren, funktioniert auf Grund des prosaischen Schreibstils aber trotzdem. Wenn man auf der letzten Seite angelangt ist, möchte man gleich wieder von vorne anfangen, um die Intentionen des Autors in ihrer vollen Breite zu erfassen.
Fifth Head of Cerberus ist ein frühes Meisterwerk von Gene Wolfe. Sehr einprägsam fand ich die Kolonialwelt, sie wirkte real und gleichzeitig anders, fremdartig. In der letzten Geschichte wird die Frage aufgeworfen, wie man damit umgehen soll, zu einer unterworfenen Rasse bzw. Schicht zu gehören. Haben die Ureinwohner tatsächlich Fähigkeiten als Gestaltwandler und leben unter den normalen Menschen? Ist man als Sklave besser dran als als freier Mann, der unterdrückt wird? Diese zwischengesellschaftlichen Spannungen sind zwischen den Zeilen ständig present und sorgen bereits für eine spannende Lektüre. Gene Wolfe schreibt aber auch über die Schwierigkeit, seine eigene Identität festzulegen. Ist man der, für den man sich hält? Kann man ignorieren, was im Inneren schlummert, dunkel und verborgen?
Das Buch ist zwar leicht zu lesen, aber schwer zu entziffern. Wer die Mühen nicht scheut, wird reichlich belohnt. Was kann man sich mehr wünschen.
Wertung: 7 von 7. Drei phantastisch ineinander verwobene Novellen.
Ende Mai 2008 habe ich die Titelgeschichte noch einmal gelesen. Meine Gedanken dazu finden sich in diesem Essay. Ohne Spoiler geht es nicht, deshalb bitte zuerst das Buch lesen.