Reihe: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
Unsere Erde im Jahre 2022: Die Umwelt ist am Ende, die Energievorräte fast aufgebraucht und die Massenarbeitslosigkeit versetzt der Demokratie gerade den Todesstoß. Journalist Maximilian Cording arbeitet für das Magazin Emergency des Pressezaren Rupert Murdock, äh, Matlock, das seine Seiten mit aufklärerischen Artikeln füllt, deren Themen im Vorhinein mit den Werbekunden (also der Industrie) abgesprochen sind. Kein Wunder, dass Cording, Ende vierzig, desillusioniert ist, sich ausgebrannt fühlt. Gerade jetzt bekommt er zum Glück den Auftrag, an eine alte Wirkungsstätte zurückzukehren: Er soll einen Artikel über die polynesische Republik schreiben, die Gesellschaftsinseln in der Südsee, die nicht zuletzt dank seiner journalistischen Unterstützung vor neun Jahren ihre Unabhängigkeit von Frankreich durchsetzten. Seitdem hat der charismatische Präsident Omai den jungen Staat nach equilibristischen Kriterien neu ausgerichtet [zum Thema Equilibrismus später mehr!] und will nun der Weltöffentlichkeit zeigen, dass dieses neue System funktioniert.
Nach seiner Ankunft wird Cording Omais 23-jährige Schwester Maeva als Führerin zugeteilt, deren Schönheit ihm schon vor neun Jahren den Atem raubte. Die Universitätsdozentin für Ökologie bereist mit ihm Tahiti und andere Inseln des Archipels und erklärt ihm die Wesenszüge des Staates sowie die Funktionsweise umweltfreundlicher Technologie. Gleichzeitig lernt der Europäer durch sie die tahitianische Spiritualität kennen und schätzen, lernt viel von der "Schlacke" abzuwerfen, die er in den vergangenen Jahren mit sich herumgetragen hat.
Gleichzeitig bekommt die Geschichte einen Schuss Dramatik durch die Versuche eines amerikanisch-chinesischen Konsortiums, völkerrechtswidrig die enormen Ressourcen an Kupfer, Nickel und Kobalt abzubauen, die auf dem Südseeboden lagern. Langfristig würden diese Aktivitäten unweigerlich die Ökologie der Region ruinieren. In Zeiten akuten Energiemangels sind die Industriekonzerne aus Übersee jedoch zu allem entschlossen. Sie führen mehrere US-Minister auf ihrer Lohnliste und schrecken selbstredend zur Durchsetzung ihrer Ziele nicht vor Mord zurück. Als die Polynesier von diesen Plänen erfahren, setzen sie sich auf ihre Art zur Wehr. Cording ist in dieser Situation schnell klar, wo seine Loyalitäten liegen. Mit journalistischen Mitteln versucht er, die Welt auf die Gefahr für das Paradies am Ende der Welt aufmerksam zu machen.
Klassische Utopien sind rar in der heutigen Zeit - und das aus gutem Grund. Die Gräuel zweier Weltkriege haben den Glauben vieler Menschen an eine friedvollere Welt zerstört, und die jahrzehntelange Meinungsmache interessierter Medienkreise à la `Der Sozialismus ist nach Stalin und Co. ein für allemal tot!’ haben das Ihre dazu beigetragen, den Leuten einzureden, es gebe keine Alternative zu der Art globalem Kapitalismus, der gerade unsere Welt plattmacht.
Der erste Absatz dürfte schon gezeigt haben, dass es in dieser Rezension ebenso sehr um Politik wie um Ästhetik gehen wird. Zuerst sollte ich aber erst einmal einen Ausdruck definieren, der für meine weiteren Ausführungen von zentraler Bedeutung ist, nämlich den der klassischen Utopie. Darunter verstehe ich im Folgenden einen fiktionalen Text, der auf dem 1516 mit Thomas Mores "Utopia" begründeten Modell fußt (antike Vorläufer lasse ich der Einfachheit halber mal weg). Typisch für diese Spielart der Utopie sind Plots, bei denen ein (fast immer männlicher) Außenstehender in ein fremdes Land (oft eine Insel) reist, von einem einheimischen Führer in die Eigenheiten des utopischen Staates eingeführt und letztlich zu dessen Werten bekehrt wird.
In dieser Tradition steht Dirk Flecks "Das Tahiti Projekt". Früh im Buch weist der Autor auf Ernest Callenbachs "Ökotopia" als Einflussquelle hin, ein Werk der späten sechziger Jahre, das einen ökologisch bewussten Staat Kalifornien (sowie die Irrungen und Wirrungen der freien, gleichberechtigten Liebe) beschreibt. Um die Umwelt und eine nachhaltige Wirtschaft geht es auch Fleck. Ausdrücklich unterstützt "Tahiti" die Ziele der real existierenden Equilibrismus-Bewegung, zu deren Anhängern Ex-Ford-Manager Daniel Goeudevert und der leider bereits verstorbene Sir Peter Ustinov zähl(t)en.
Den Zustand der Welt beschreibt Fleck (pikanterweise mit den Worten eines als "UNA-Bomber" berüchtigten Öko-Terroristen) so:
"Die Folgen der Industriellen Revolution haben sich für die Menschheit als eine Katastrophe erwiesen. Das Leben wurde unerfüllt, die Menschen gerieten in eine unwürdige Abhängigkeit, diese Entwicklung hat zu weit verbreiteten psychischen Problemen geführt und der Natur wurde unermesslicher Schaden zugefügt." (S. 37)
Gegen dieses bedrückende Szenario stellt die junge Polynesische Republik ein Programm mit den Eckpunkten "Grundgehalt für jeden Bürger, Arbeitsplatzgarantie, ein preiswertes Transportsystem, billige Energieversorgung auf regenerativer Basis" (S. 56f).
Die meisten klassischen Utopien gehören inhaltlich zu einem von zwei Haupttypen: Einige beschreiben eine Art Arkadien, einen Garten Eden, in dem der Mensch in naturbelassener Umgebung einfach, glücklich und ohne allzu viel Arbeit lebt. Die zweite Variante beschreibt technologisch hochentwickelte Staaten, in denen (vor allem seit dem späten 19. Jahrhundert) meist sozialistische Gesellschaften entstanden sind. Dirk Fleck nun kombiniert beide Modelle, verknüpft Südseeromantik mit heute bereits vorhandener (oder zumindest im Stadium der Entwicklung befindlicher) Technologie. Wenn Cordings Führerin (und in Personalunion auch Love Object) Maeva ihrem Schützling z. B. die Funktionsweise eines Gezeitenkraftwerks erläutert, kann man als Leser sicher sein, dass im Buchanhang eine längere Erklärung dazu geboten wird, einschließlich Links zu Internetnetseiten.
An dieser Stelle ein erster Kritikpunkt: Für meinen Geschmack hätten solche erklärenden Passagen gern noch wesentlich umfangreicher - und direkt in den Text integriert - sein können, da es primär der utopische Inhalt ist, der "Das Tahiti Projekt" zu einer interessanten Lektüre macht. Wie gegen fast alle klassischen Utopien lassen sich nämlich auch gegen dieses Werk literarische Einwände erheben. Als Roman gelesen, ist "Tahiti" ein ... schlechtes Buch. Es gibt kaum Charakterisierung: Die einzige wichtige Frau in der Geschichte definiert sich ausschließlich durch ihre Funktionen als Führerin/Lehrerin bzw. als Traumfrau. (Wenn sie als Uni-Dozentin mehrmals zum kichernden Teenie regrediert, ist das wenig glaubwürdig.) Außerdem ist das eigentliche Plot dünn und tritt hinter das Hauptanliegen der politischen Aufklärung/Agitation zurück.
Diesem Ziel wird halt alles untergeordnet. Das fängt an bei der Sprache, die vor allem in den wenigen thrillerhaften Szenen des Buches `für den guten Zweck’ wilde Stilblüten treiben kann. Als Beispiel sei hier nur eine kurze Textpassage zitiert, in der Protagonist Cording ganz am Anfang des Buches beschreibt, wie kalifornische Aktivisten/Terroristen um die letzen verbliebenen Redwood-Bäume kämpfen:
"Am Himmel die schmatzenden Schläge der Rotorblätter, am Boden das schrille Gebrüll der Kreissägen, gewürzt mit den dumpfen Vibrationen, die vom Aufprall der niedergemetzelten Redwoods rührten. Und als ob die Untergangssinfonie noch eines burlesken Tupfers bedurft hätte, schleuderte ein Ambulanzwagen den zum Tode verurteilten Bäumen seinen Sirenengesang um die Stämme." (S. 18)
Au, Backe. Einen Preis für schöne Prosa kann man mit solchen Sätzen sicher nicht gewinnen.
Kommen wir zurück zum Plot: Natürlich muss ein fiktionaler Text mit politischen Absichten leicht und flüssig lesbar sein, um unterwegs nicht unnötig Leser zu verschrecken. Deshalb die schon erwähnte Traumfrau - die mit ihren 23 Jahren nichts Besseres zu tun hat, als sich einem mehr als doppelt so alten `Knacker’ an den Hals zu werfen. Warum sie das tut? Wir erfahren es nicht. Vielleicht sind sie ja so veranlagt, die Polynesierinnen, dass sie bei Europäern schnell schwach werden? Jedenfalls findet auch Cordings Begleiter, der englische Teenager Steve, schnell ein hübsches Mädel, das ihn zu ihrem Liebsten erkürt.
Letztlich bedienen Flecks exotische Schönheiten vor allem das alte Südseeklischee, den Traum vom Paradies, der durch Europas Köpfe treibt, seit der französische Seefahrer Bougainville im späten 18. Jahrhundert den Parisern von Polynesien vorschwärmte. Fleck selbst weiß das und sagt es ganz offen. In seinem Buch führt er Stevenson und Gauguin an und lässt abgebrühte Journalisten darüber flachsen, warum die Polynesier in der aktuellen Bedrängnis gute Aussichten haben, von der Weltöffentlichkeit unterstützt zu werden:
"Dies ist Tahiti, nicht die Faröer. Der Mythos funktioniert, da wette ich." (S. 145)
Für den Leser besonders lustig - wenn auch sicher vom Autor nicht so beabsichtigt - ist dabei, mit anzuschauen, wie Dirk Fleck regelmäßig seiner eigenen Masche zum Opfer fällt. Gleich von der allerersten Polynesierin (auf dem Flughafen von Auckland) heißt es: "In der Abflughalle wurden sie von einer jungen Tahitianerin empfangen, deren Lächeln die Strahlkraft des Blumenschmucks, den sie im Haar trug, noch übertraf." (S. 59) Über die Tahitianer im Allgemeinen weiß der Autor zu berichten, "dass ein einziger freundlicher Blick ausreichte, um auf ihre Gesichter ein Lächeln von solcher Intensität zu zaubern, dass man unversehens in elysische Sphären katapultiert wurde." (S. 67) Und die vierzehnjährige Maeva bewegte sich einstmals "mit einer Anmut, als trüge sie ihr Lebenselixier in einer Schale spazieren." (S. 68)
Doch vorerst genug der (durchaus nicht böse gemeinten) Häme. Die stünde auch kaum einem Rezensenten an, zu dessen Lieblingsfilmen "Die Hafenkneipe von Tahiti" gehört. Kommen wir noch kurz zu einem immer wieder gegen klassische Utopien erhobenen Vorwurf: Die in ihnen beschriebenen Gesellschaften sind statisch und letztlich langweilig. Der Mensch will nicht für immer nur zwischen seinen Zehen herumprokeln, sondern es drängt ihn, `to boldly go where no-one has gone before’.
Diesem Problem versucht Fleck dadurch zu entgehen, dass er den Erhalt der Natur als eine nie endende Verpflichtung darstellt, die ständig neue umweltverträgliche technische Neuerungen nötig macht, und dass er die tahitianische Bevölkerung - und schließlich auch den Besucher aus Übersee - ihre verschüttete Spiritualität wiederentdecken lässt. In der Praxis bedeutet das: Man versucht im Einklang mit sich und der Natur zu leben und sieht ein solches Leben als ethisch verbindlich an. Unser bemitleidenswerter Protagonist Maximilian Cording muss sich am Ende als Zeichen seiner spirituellen Wiedergeburt sogar die Haut mit Tätowierungen verunstalten lassen - sozusagen als conditio sine qua non, um von Miss Südsee erhört zu werden.
Schluck!
Sicher ist im Verlaufe dieser Buchbesprechungen zwischen den Zeilen der Eindruck erweckt worden, Dirk Fleck sei kein großer Autor. Auf der Basis dieses einen Buches ist das auch so. Während der Lektüre hegte ich Befürchtungen, die seltenen Thriller-Einsprengsel könnten sich zu einem schreierischen Action-Finale verdichten. Man stelle sich nur seitenweise Prosa wie die o. a. `Redwood-Lyrik’ vor. Stattdessen nutzte der Autor die Gelegenheit und ließ (seinen `gütigen, weisen König auf Zeit’) Omai politische Reden halten, die wesentlich effektvoller waren, als es Knall-Bumm-Peng hätten sein können.
Um es noch einmal klar zu sagen: Mir hat dieses Buch gut gefallen, weil meine Hauptkriterien für eine gelungene klassische Utopie `flüssig lesbar’, `anschaulich beschrieben’ sowie `unterstützenswerte Ziele’ sind. Literarisch ist der Text natürlich kaum zweitklassig, aber das habe ich auch nicht anders erwartet. Ansonsten hätte ich viel eher eine moderne Utopie gelesen, einen Text etwa wie Ursula K. Le Guins "The Dispossessed", der schon im Untertitel "Am Ambiguous Utopia" heißt, weil er eben keinen (fast) makellosen Staat als 1:1-Richtschnur für eigenes Handeln entwerfen will. Oder ich hätte zu Marge Piercys "Woman on the Edge of Time" greifen können, Samuel R. Delanys "Triton", Ken MacLeods Fall-Revolution-Serie, Kim Stanley Robinsons Pacific-Edge-Trilogie und und und ...
Und als Abschluss die Stimme einer wohlwollenden Kritikerin innerhalb des Buches (einer amerikanischen Journalistin):
"Es ist diese Melange aus zeitgemäßem ökologischem Engagement und wiedergewonnener Spiritualität, was mich am meisten fasziniert. Abgesehen natürlich von der herrlichen Natur." (S. 145f)
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Argh, das Folgende wollte ich mir eigentlich verkneifen, aber ich schaffe es einfach nicht. Nicht weniger `faszinierend’ als die oben genannten Punkte war natürlich die ungewollte Komik. Als Cording Maeva zwischendurch einmal einen Abschiedsbrief schreibt, verfällt er auf die Formulierung: "Du hast mich daran erinnert, dass zwischen Mann und Frau mehr möglich ist als emotionaler Vampirismus." (S. 197) Einfach köstlich! Zwar sieht Cording schnell selbst ein, wie bekloppt das klingt, aber dennoch: Wegen dieser und ein paar ähnlich süßen Bemerkungen blieb mir während der Lektüre der Verdacht im Hinterkopf, bei dem Protagonisten könne es sich um eine bedauernswerte Knallcharge handeln.