Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
In einem Nachwort zu Das Fest am Abend erklärt John Updike, er habe seinen Debütroman im Jahre 1957 geschrieben, und damit während der "entropischen Jahre des Eisenhowerschlummers". Dwight D. Eisenhower war von 1953-61 der 34. US-Präsident, und seine zwei Amtszeiten (während derer dem republikanischen Präsidenten im Kongress eine demokratische Mehrheit gegenüberstand) werden in den Geschichtsbüchern als Zeit des innenpolitischen Stillstands beschrieben. Updike zufolge sollte sein Buch keinen prophetischen Charakter besitzen, sondern einfach die Zustände dieser Jahre fortschreiben und karikieren. Im Jahre 1977 hat sich die USA zu einem Ein-Parteien-Staat mit stark sozialistischen Tendenzen entwickelt. Dank fortschrittlicher Technik werden Amerikaner immer älter. Gleichzeitig hat die Spaßkultur dazu geführt, dass die Religionen in Vergessenheit geraten und das soziale Auffangnetz 'Familie' immer seltener funktioniert. Gleichzeitig hat die Globalisierung (Updike nannte das 1957 natürlich anders) zu einer Einkommensnivellierung auf niedrigem Niveau geführt. Als Folge all dessen entstehen landesweit immer mehr Armenhäuser für Menschen, die private Insolvenz anmelden mussten.
Die Handlung des Buches spielt an einem einzigen Tag, und zwar im "Diamond County-Heim für ältere Leute" am Ortsrand von Andrews, New Jersey. Am dritten Samstag im August veranstaltet dieses Armenhaus alljährlich ein Sommerfest, bei dem eine Musikkapelle spielt und verschiedene alte Leute an Ständen im Garten Essen und Trinken sowie ihre selbst hergestellten Näh- und Bastelarbeiten anbieten. Der Roman schildert aus der Perspektive eines halben Dutzend Hauptpersonen sowie einiger Nebencharaktere die Ergebnisse vom Sonnenaufgang bis in die Nacht, beschreibt die Gefühle der Beteiligten und ihren Umgang miteinander.
Das Armenhaus wurde bis vor drei Jahren von dem Präfekten Mendelssohn geleitet, einem Säufer, der sich nicht weiter um Details wie gutes Essen oder Notausgänge kümmerte, trotzdem aber bei den Insassen beliebt war, weil er stets umgänglich war: Das Mittagessen z.B. nahm er mit allen anderen im Speisesaal ein (an einem Extratisch auf einer Empore). Anschließend hielt er gern religiöse Ansprachen und sang fromme Lieder. Kurz: Er bot den gelangweilten alten Menschen die Abwechslung, die ansonsten nur einige von ihnen bei ihrer freiwilligen Arbeit auf dem zur Einrichtung gehörenden Agrarland bekamen. Und er bot in seiner Rolle als kleiner Potentat den Menschen den religiösen Trost, dessen viele bedurften. Sein junger Nachfolger Conner ist eine völlig andere Art Mensch. Er verachtet Metaphysik, hat für seinen derzeitigen Beruf eigens studiert und sieht es als seine höchste Pflicht an, die statistische Lebenserwartung der ihm Anbefohlenen sowie die Rentabilität des Agrarbetriebs zu steigern. Mit den Hausbewohnern kommt er dabei kaum in Kontakt. Vor sich selbst begründet er seine zurückgezogene Amtsführung (mit einem Büro im vierten Stock, wo niemand je hinkommt) damit, dass er den alten Menschen möglichst viel Freiheit geben und nicht wie ein Kontrolleur herumlaufen will. Eigentlich aber sind ihm seine Mitmenschen schlicht unangenehm. Die Alten empfindet er manchmal als Klotz am Bein der Gesellschaft, und seine Stellung im Armenhaus hindert ihn daran, diejenigen seiner Tagträume zu verwirklichen, in denen ihn das ganze Land als den großen Helden des Fortschritts preist.
Conner spürt, dass die Hausbewohner noch seinem Vorgänger nachtrauern, und macht dafür in seiner Unsicherheit die 'graue Eminenz' des Hauses, den 94-jährigen ehemaligen Schulleiter John C. Hook, verantwortlich. Diesem hat sich im Laufe seines langen Lebens zwar tatsächlich der "Schulmeisterinstinkt" tief eingebrannt, gleichzeitig ist er aber "in fast nicht mehr erlaubtem Maß nächstenlieb" und weit davon entfernt, eine Rebellion gegen den Präfekten anzuzetteln. Noch in der allerletzten Szene des Buches überlegt Hook (vergeblich), wie er Conner bei seiner Arbeit künftig unterstützen kann.
Verschiedene Umstände führen dazu, dass am Nachmittag eine Gruppe von Heimbewohnern genauso spontan wie halbherzig versucht, Conner zu steinigen. Der ehemalige Elektriker Gregg, ein ewiger Halbstarker und so unzufrieden mit seinem Leben, dass er mit jedem Wort, das er spricht, Menschen aufs Gröbste beleidigt, findet am Morgen eine von einem Auto schwer verletzte Katze und versucht vergeblich, sie zu füttern. Da alle der Meinung sind, dem Tier sei nicht zu helfen, trägt Conner seinem Assistenten Buddy Lee (sehr jung, gebildet, schwul - Simpsons-Fans denken sofort an Mr. Smithers) auf, das Tier zu erschießen. Währenddessen setzt ein heftiges Gewitter ein, das das Fest am Abend gefährdet. Als sich Conner dann im Aufenthaltsraum mit Hook ein langes Streitgespräch über das 'Ewige Leben' liefert (bei dem weder der religiöse 'Oberlehrer' noch der 'Weltverbesserer' nachgeben wollen), fokussiert sich die Frustration der Heimbewohner endgültig auf ihren Präfekten. Als Conner schließlich vor dem Haus noch einige Aufräumarbeiten für das Fest durchführt, brennt zuerst bei Gregg eine Sicherung durch: Der alte Maulheld wirft den ersten Stein. Gregg hat gerade die tote Katze gefunden, im Geiste das Schicksal des Tiers mit seinem eigenen verglichen, und nun ist er von seinem üblichen 'gerechten Zorn' erfüllt. Als die Kieselsteine auf ihn einprasseln, zieht sich Conner mit seinem letzten bisschen Würde zurück, bis sich die Gemüter beruhigt haben. Als er dann den unbeteiligten Hook nach den Gründen für die Tat fragt, meint dieser lakonisch: "Müßiggang ist aller Laster Anfang." - Die Leute hatten seiner Meinung nach einfach zu viel Langeweile.
Dieser Erklärungsversuch Hooks ist sicherlich nicht erschöpfend, aber so gut wie jeder andere. John Updike scheint es in diesem Roman nicht allein darum zu gehen, das 'unmenschliche' Armenhaussystem anzuklagen. (Im Vergleich zu aktuellen Geschichten aus deutschen Altenheimen ist das Armenhaus ein angenehmer Aufenthaltsort.) Hauptsächlich beschreibt der Autor Einstellungen und Konflikte, die es immer schon gegeben hat. Den noch unsterblichen Jungen ist die Erinnerung an den Tod eher unangenehm. Ein Lieferwagenfahrer von Pepsi-Cola fühlt sich beim Anblick der Heimbewohner sogar an Wiedergänger aus einem kürzlich gesehenen Horrorfilm erinnert. Die Alten dagegen erinnern sich an die Vergangenheit, fürchten sich vor dem Tod und verübeln den Jungen ihren Hochmut.
Updike stellt diesen Konflikt durchgehend in den Vordergrund und beschreibt ihn sprachlich auf anspruchsvollem Niveau. In einer Szene soll der 70-jährige George Lucas sich wegen einer Ohrinfektion zur Behandlung im Krankensaal melden. Panisch, weil er fürchtet, gleich dabehalten zu werden, erscheint ihm der Raum als ein Ort des Todes:
"... immer mehr verschwamm die Reihe, bis zu den letzten Betten unter den palladianischen Fenstern, die ein perlfarbenes, entwestes Licht über das Leinen gossen. (...) Ein paar von den Gestalten regten sich leise: ein knöcherner Arm ragte, Aufmerksamkeit heischend, empor. Ein rosa gescheuerter Schädel wandte sich apathisch dem gerade Eingetretenen zu. (...) Lucas stellte sich Körperteile vor - Füße, ein Becken, Schultern ohne Arme - , die mit Röhren aus biegsamem, durchsichtigem Glas miteinander verbunden waren, so daß man den blasigen Strom des Blutes und gelber Körpersäfte verfolgen konnte."
Das Fest am Abend selbst gerät dem Autor zu einer zwanzig Seiten langen, fast ungeordneten Collage, in der die Müdigkeit der alten Leute neben den Sehnsüchten der Jugend steht. Während etwa der alte ehemalige Bürgermeister des Ortes (der auf seinem riesigen Landsitz von seiner Tochter auch nur noch geduldet wird) versucht, auf seinen lebhaften Enkel aufzupassen, beschwört anderswo ein junger Mann mit vollem Einsatz seine Angebetete, sich hier und jetzt vor ihm auszuziehen: "So sehr liebe ich dich... Ich würde mir den Arm abschneiden, um es dir zu beweisen. Ich würde Scheiße essen für dich." Welch ein Unterschied zu der alten Mrs. Lucas, die sich nur noch um ihren Sittich sorgt und darüber jammert, dass die Tochter nie anruft.
John Updike ist wahrscheinlich der berühmteste lebende amerikanische Schriftsteller. Viele seiner Romane wurden von der Kritik hoch gelobt, u.a. bereits sein zweites Werk, Hasenherz, aus dem Jahre 1960. Über den Erstling Das Fest am Abend schweigen die Kritiker. Michel Houellebecq schrieb einmal (in einem Aufatz im Guardian vom 04.06.2005): "It is useless (...) to write new, realistic novels. We generally know where we stand in relation to reality and don't care to know any more." Zumindest wenn es um mittelmäßige realistische Romane geht, würde ich dieser Aussage zustimmen. Bei allem offensichtlichen sprachlichen Talent hinterlässt Das Fest hauptsächlich Verwirrung. Alles, was über Jung und Alt gesagt wird, ist wahr - und altbekannt. Wenn ein Buch gänzlich auf Dramatik verzichtet, sollten zumindest die Charaktere den Leser berühren. Dies zu erreichen, gelingt Updike allzu selten. Unglücklicherweise macht sich die Erzählerstimme auch noch mehrfach ironisch über die Hauptpersonenen lustig. - Es ist schwierig, sich für Charaktere zu interessieren, die selbst der Autor lächerlich findet.