Titel: Dark Canopy Eine Rezension von Doreen Below |
Zitat:
Ich sah nur das Blut. Es lief den Griff entlang, rann in die eingeschnitzten Linien, die meinen Namen formten, und tropfte mir in den Schoß. Mein Messer war mir einst so vertraut gewesen wie meine eigene Gefühlswelt. Jetzt schnitt ich mich daran. Am einen wie am anderen. (Seite 387)
Kurzbeschreibung:
Joy hats erwischt! Während einer mutigen Befreiungsaktion gerät sie selbst in die Fänge des nicht umsonst gefürchteten wie herrschenden Feindes, den Percents. Dabei handelt es sich um genetisch veränderte Soldaten mit speziellen Fähigkeiten - einst erschaffen um im dritten Weltkrieg zu dienen/töten. Als überzeugte Rebellin würde Joy natürlich lieber sterben, als sich von einem dieser "unmenschlichen" Kreaturen auch nur anfassen zu lassen. Selbstverständlich ist das reines Wunschdenken und Joy muss eine harte wie bittere Ausbildung über sich ergehen lassen. Am Ende steht ihr nämlich eine scheinbar unmögliche Prüfung bevor, die für sie entweder den Tod, ein weiteres Leben in Gefangenschaft oder gar Freiheit bedeuten könnte. Was Joy nicht ahnt: bald steht mehr für sie auf dem Spiel, als der Kampf ums nackte Überleben. Denn plötzlich entwickelt ihr Herz immer lauter werdende Gefühle für den Feind ...
Meine Meinung:
"Dark Canopy" gehört endlich mal wieder zu der Gattung Dystopie, die mich von der ersten Seite an packen konnte und erst wieder losließ, als sich der letzte Sonnenstrahl vom Himmel stahl und der nächste bereits den Morgen erhellte. Na gut, vielleicht nicht ganz, aber zumindest fühlte es sich so an! Anders als bei meinem letzten Ausflug ins Reich der schattigen Zukunftsaussichten, verfolgte ich dieses düstere, gefühlschaotische und äußerst spannende Werk - aus deutscher Schreibfeder - GEBANNT unter finsterem Himmel und sage: Liebe Jennifer Benkau, der Rückzug in das einsame Schneckenhaus sowie Joys spröde Gedankenwelt haben sich mehr als bezahlt gemacht. Nachschub bitte!
Der Klappentext verrät nicht viel über die Ereignisse, die sich dem Leser während dieses circa 530 Seiten dicken Wälzers offenbaren. Perfekt! Je weniger man vorab weiß, desto besser! Nur so viel: während des Lesens musste ich an eine futuristische Fusion aus den High Fantasy Abenteuern "Der Kuss des Kjer" sowie "Sephira. Die Bruderschaft der Schatten" denken ... zumindest was das rohe Grundgerüst, die eingefahrene Ausgangssituation im feindlichen Lager und die langsam reifende Gefühlsentwicklung einzelner Protagonisten betrifft. Nicht mehr und nicht weniger!
In "Dark Canopy" wird es spannend, gefährlich, romantisch ... und vor allem Düster. Denn der Himmel, unter dem Joy und ihre Rebellenfreunde zu überleben versuchen, wird überwiegend durch eine gut bewachte Maschine namens "Dark Canopy" verschluckt. Der Buchtitel ist also nicht zufällig gewählt. Das Setting strahlt entsprechend eine gedämpfte, raue und bedrohliche Atmosphäre aus, die mittels einer hoffnungsvollen, emotionalen wie authentischen Erzählweise harmonisiert wird. Darüber hinaus schimmern eingängige Metaphern und Vergleiche wie aufblühende Sonnenstrahlen durch die zuweilen unbehaglich wirkenden Buchseiten. Gänsehautfeeling!
Dass die Grundthematik (eine aufkeimende Liebe hinter den Gittern des Feindes) nicht neu ist und manch eine Situation vielleicht bekannt vorkommt, fällt da kaum ins Gewicht. Gänzlich frei von gängigen Klischees ist diese gewaltige Zukunftsvision nämlich nicht. Egal! Die greifbare Tiefgründigkeit mit der Joys Geschichte in der (Ich-)Perspektive geschildert wird fesselt einfach und das berührte mich mit zunehmender Seitenzahl ... zutiefst.
Joy ist eben eine starke Heldin mit Profil. Nicht durchweg sympathisch, dafür weiß das widerspenstige Messermädchen aber was es will und wenngleich sie zu unüberlegten Taten neigt und gerne zu rabiaten Methoden greift, folgt man gebannt ihrer ausweglosen Situation in den Händen der "gnadenlosen" Percents. Getreu dem Motto: hart, aber herzlich! Denn gleichzeitig verbirgt sich hinter der unterkühlten Rebellin ein aufgewühltes Mädchen, das sich nach unbändiger Freiheit unter sonnigem Himmel sehnt und dabei eine verbale wie körperliche Schlagfertigkeit an den Tag legt. Das ist nicht nur bewegend, sondern mitunter sehr unterhaltsam. Ihr männlicher Gegenpart steht ihr da in nichts nach. Mein Highlight: wenn ER beweist, dass man auch außerhalb des Schlachtfeldes kämpfen kann - mit reinen Absichten, versteht sich!
Um Joys Ängste, Gedanken und Gefühle glaubwürdig darzustellen, braucht es Zeit und die gestattet Benkau sich auch. Von Langeweile keine Spur! Fortwährend wird eine unterschwellige Spannung aufrechterhalten, für die ein gelegentlicher Perspektivenwechsel in der 3. Person sorgt. Ich kann mir nicht helfen, aber hier entstanden für mich kleine wie verwirrende Wissenslücken/Sprünge, die sich nur schwer fassen ließen. Dafür werden drängende Fragen in Bezug auf die Herkunft/Ideologie der Percents allmählich beantwortet ... lassen aber zugleich Raum für die Fortsetzung, die nach einem (für mich) leicht gehetzten wie dramatischen Schlussakt sehr willkommen ist. Der letzte Satz ist die reinste Folter in meinen Augen!
Ermüdete Leser von seichten Liebesgeschichten dürften sich ebenfalls freuen. Die von Beginn an erwartete Romance mit dem Feind bildet nicht die Vorhut. Was allerdings nicht heißen soll, dass sie nicht das Herz erwärmt. Ganz im Gegenteil! Nur kommt sie eben nicht belanglos, gewollt oder übertrieben schmalzig daher. In einer Welt, in der Gewalt, Unterdrückung und die Sehnsucht nach jedem einzelnen Lichtblick eine tragende Rolle spielen, bleibt durchaus genügend Platz für widersprüchliche Gefühle sowie bissige Kommentare. Oh ja! Jedoch wird dabei nie der Blick für das Wesentliche vergessen: NIEMAND ist ausschließlich Gut oder Schlecht, Freund oder Feind ... und schon gar nicht frei von Fehlern! Das betrifft etliche Neben- sowie Hauptcharaktere, die ihren Teil zu dieser großartigen Geschichte beitragen und immer wieder für gravierende Überraschungen gut sind.
Eine gute Nachricht zudem: dies ist der Auftakt zu einer Dilogie (Zweiteiler). Nicht immer müssen alle guten Dinge drei sein. Erfrischend! Die Fortsetzung erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2013.
Kurz gesagt:
"Dark Canopy" ist ein echter Lichtblick unter den düsteren Dystopien, die derzeit die Buchhandlungen überfluten. Die gut ausgefeilte Story ist zwar nicht komplett frei von gängigen Klischees, wartet aber mit einer überzeugenden Hauptprotagonistin auf, gefolgt von einer charaktertiefen (Liebes-)Geschichte und einem Buchtitel der eigentlich Programm ist. Dieses Buch ist wie eine sternenklare Nacht: hoffnungsvoll-düster, tiefgründig, wegweisend und beeindruckend schön!