|
Titel: Codex Angelique
Eine Besprechung / Rezension von Frank Drehmel |
Paris um die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert: auch wenn neue - ja revolutionäre - soziale, technische und wissenschaftliche Ideen und Erkenntnisse das Zeitalter der Belle Époque kennzeichnen, so herrscht in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht nur bittere Armut, sondern nach wie vor gilt in den schmutzigen Straßen und Gassen der Metropole „homo homini lupus“.
Während in dunklen Vierteln ein Serienmörder sein Unwesen treibt, der Frauen das Herz aus der Brust schneidet, frönt der behütete, aus wohlhabendem Hause stammende Student Thomas Devisse dem Laster des Müßiggangs und des Drogenkonsums. Mittels Absinth und Opium sucht junge Mann das Vergessen, denn der Onkel, in dessen düsteren Anwesen er aufwächst, ist seit Jahren von der Obsession besessen, seine tote Schwester Freeda - Thomas' Mutter – wiederzuerwecken und jedes Scheitern lässt ihn tiefer in den Wahnsinn gleiten.
Als Thomas in einem Antiquariat den „Codex Angeliue“- das „Kompendium der Engel“, verfasst von einem gewissen Angus McManaman –aufstöbert, erkennt der Onkel darin einen Weg, seiner geliebten Schwester Leben einzuhauchen: Mittels einer gewaltigen Maschine im Keller seiner Villa will er einen Engel als Geisel fangen, um dann Gott zu zwingen, Freeda aus dem Totenreich zurück zu holen.
Der Versuch endet jedoch in einem Desaster, in dessen Folge die Villa in einer Feuersbrunst versinkt, während Thomas augenscheinlich den Verstand verliert und in der Irrenanstalt von St. Anne landet. Hier ist der katatonische junge Mann –wie die übrigen Insassen auch - nicht nur der Willkür der brutalen Wächter ausgeliefert, sondern wird auch zum Objekt neumodischer Therapien, von Elektroschocks bis hin zur Hypnose und Psychoanalyse nach Lehren Sigmund Freuds. Unterdessen werden in der Stadt die Leichen älterer Frauen gefunden, die jemand in einem Kanal entsorgt hat, sodass die Polizei in Person Kommissar Nimbers und seines Assistent Pujol, alle Hände voll zu tun hat. Und dann taucht Angus McManaman in Paris auf, um Thomas die Wahrheit hinter dem „Codex Angelique“zu enthüllen.
Autor Thierry Gloris und Künstler Mikaël Bourgouin zeigen uns in ihrer Geschichte die dunkle Seite der Belle Époque, der schöne Epoche, ein düsteres Sittengemälde. Nicht dem mondänen Leben, dem Flanieren auf den lichten, breiten Boulevards der Seine-Metropole schenken sie ihre Aufmerksamkeit, sondern dem Schmutz und dem Unrat der nachtschwarzen Gassen, dem Treiben der Halb- und der Unterwelt in den Kaschemmen, Opiumhöhlen und Bordellen der Stadt, dem Derben, Wollüstigen und Rohen. Sie lassen ihre Protagonisten leiden angesichts einer Tristesse, die sie nur aushalten, indem sie wie Thomas erst in den Rausch und dann in die Katatonie fliehen oder wie Inspektor Nimber und sein Assistent in Zynismus und Sarkasmus. Und doch glimmt in all der überkommenen Düsternis Hoffnung, wenn Professor Freud und Dr. Magnan – beide Charaktere haben historische Vorbilder – über Humanismus plaudern oder Thomas – vorübergehend - echte Liebe anstatt käuflicher findet.
Obgleich die Story neben einem technischen Moment auch deutliche Horrorelemente aufweist, ist sie allerdings weder dem Steampunk-Sujet zuzurechnen, noch ist das Metaphysische so manifest, dass es sich um eine klassische Horror-Geschichte handelt, denn das Grauen wächst und wühlt in den Protagonisten selbst, sodass nur schwer zwischen Visionen und Realität zu unterscheiden ist.
Das Artwork Bourgouins ist vom Zeichenduktus her, in den Konturen eher fein, während sich die malerischen Koloration düsterer, schwerer, erdiger Farben bedient, die oftmals ins Bräunliche und/oder Grünliche abgetönt sind. Dabei tragen die Formensprache und die Figuren in ihrer Kantigkeit, mit ihren länglichen, raubvogelhaften Gesichtern, deutlich expressionistische Züge, wobei für den kahlköpfigen Thomas Edvard Munchs ikonografisches Gemälde „Der Schrei“ Pate gestanden zu haben scheint.
Fazit: Atmosphärisch intensives, düsteres Drama, das einen von der ersten bis zur letzten Seite in seinen Bann zieht.