Serie: ~ Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
In einer fernen, fernen Zukunft haben die meisten Menschen die Erde verlassen und Teile der Galaxis besiedelt. Zurückgeblieben sind nur wenige Städte, die - fast wie Museen - das Alte bewahren und Touristen veranschaulichen, wo die Ursprünge ihrer Rasse liegen. Die schönste dieser Städte ist Cirque, eine Gartenstadt, die k r e i s förmig einen zehn Kilometer durchmessenden und nie erforschten Abgrund umgibt, in den der Fluss Fundament mündet.
Cirque gilt als die spirituelle Heimat der Menschen. Alle je gegründeten Religionen und Sekten haben ihre Kirchenhäuser und Tempel hier errichtet und den Abgrund zu einem festen Bestandteil ihres Glaubens gemacht, einer "übernatürlichen Manifestation", in der "der Schlüssel zur Menschheit liegen müßte." In diesem schwarzen Loch enden angeblich alle Sünden und Ängste, der Hass und die Unzulänglichkeiten, von denen man sich in religiösen Prozeduren (wie etwa der christlichen Beichte) reinigt. Dort hinein leitet man aber auch all die Abfälle und Abwässer, die die Stadt erzeugt.
Eines Morgens landet ein (drei Meter großer) Tausendfüßler aus Aldebaran auf dem Raumhafen außerhalb der Stadt und erklärt einem Passanten, er sei gekommen, "um das 'Wunderbare Auftauchen' aus eurem Abgrund zu beobachten," an diesem Tag, der "das Herz seines Jahrhunderts" sei. Der Passant tut diese Worte zu Unrecht als leeres Gerede ab. Er weiß nicht, dass Tausendfüßler von ihrer Geburt an alles voraussehen können, was ihnen in ihrem Leben zustoßen wird. Dieser Vertreter seiner Spezies weiß genau, warum er hier ist. Im Verlaufe der kommenden 24 Stunden werden die wichtigsten Ereignisse seines Lebens geschehen, und er wird die Wege der zahlreichen anderen Hauptcharaktere kreuzen.
Cirque ist gewissermaßen ein `Ensemblestück' mit vielen fast gleich wichtigen Personen. Zwei dieser (ausnahmslos jungen) Menschen sind der reiche und (in einer `Museumsstadt') sehr beschäftigungslose Bauingenieur Jamie sowie seine äußerlich unnahbare Geliebte Gloriana Crest, die gewählte Wächterin und Gesetzgeberin der Stadt. An diesem Morgen fliegen die beiden mit Jamies Gleiter in den Abgrund hinab und entdecken an seinem Grund riesige tentakelbewehrte Wesen.
Die Sinneseindrücke des Paares nimmt die Mentorin der Stadt auf und sendet sie an alle Bewohner Cirques weiter. Das Amt der Mentorin wurde einst geschaffen, um das Verständnis der Menschen für einander zu stärken. Die Mentorin ist eine sogenannte Homopathin, derzeit ein fünfzehnjähriges Waisenmädchen, das sein eigenes Ich aufgegeben hat - und seit neun Jahren im Wachschlaf fühlt und sieht, was alle Menschen in Cirque tun. Mit Hilfe ihrer enormen telepathischen Kräfte leitet sie in die Köpfe der Bewohner weiter, was ihr als wichtig erscheint.
Ihre Gedankensendung bewirkt in Salamander, der Priesterin der ältesten Kirche Cirques, eine religiöse Vision, in der die Tentakelwesen zu mythischen Weltverschlingern aus Hass und Sünde werden, einer Bedrohung für alle. Auch diese Empfindungen sendet die Mentorin, ist von der Stärke der Gefühle aber so schockiert, dass sie ins Koma fällt. Salamanders Urteil beunruhigt viele Menschen, u.a. auch den Rat der Stadt, der Gloriana beauftragt, mit giftigen Chemikalien gegen das Unbekannte vorzugehen...
Wie leben wir unser Leben? Dies ist die Grundfrage, die Terry Carrs einziger ambitionierter Roman verhandelt. Die Encyclopedia of Science Fiction (hier in Gestalt von John Clute) nennt Cirque eine "religious allegory, elegiac in mood." Das hässliche Untier aus der finsteren Tiefe ist dabei ein drastisches Symbol für die Angst des Menschen vor dem Fremden. Das Leben stagniert in Cirque, nicht nur äußerlich, sondern auch in den Köpfen der Menschen, die sich allzu starr an Überkommenem festklammern - seien es kirchliche Dogmen (den Abgrund betreffend) oder Lebenspläne, die nicht funktionieren. Der Roman hat mindestens sechs Hauptcharaktere. Neben Jamie und Gloriana sowie der Mentorin Annalie und der Priesterin Salamander sind das noch der Künstler Gregorian und Nikki, seine Freundin, die so wenig Selbstbewusstsein besitzt, dass sie jeden Morgen Drogen einwirft, die ihre Person in vier Teilpersönlichkeiten aufspalten. Im Verlauf eines Tages übernehmen diese nacheinander die Kontrolle über den Körper und leben all das aus, wozu der ganzen Nikki der Mut fehlt.
Die Handlung des Romans entfaltelt sich langsam und leise, wechselt zwischen ihren Hauptpersonen hin und her und gibt schließlich ihnen allen die Gelegenheit zu einem neuen Anfang. Cirque ist ein auf beinahe naive Weise optimistisches Buch. Seine Hauptpersonen lernen im Verlauf der Geschichte, dass sie nicht allein sind und jeden Tag aufs Neue in einer wunderbaren Welt leben. Sie lernen die romantische Liebe und die Nächstenliebe kennen, die Achtung vor sich selbst und den Respekt vor der Schöpfung. Terry Carr geht es offensichtlich sehr um Spiritualität (weniger um Religion). Vieles, was er vor allem dem Besucher aus Aldebaran - als Verkörperung des wandernden Philosophen, Dichters und Religionsstifters [Buddha als Vorbild?] - in den Mund legt, ist weder besonders neu noch falsch. Letztlich sind diese Aussagen nicht das Wichtigste an dem Buch. Man braucht nicht an höhere Mächte zu glauben, um sich von der wehmütigen Stimmung der Erzählung anstecken zu lassen und mit den zwei mit der größten Wärme gezeichneten Charakteren mitzufiebern: Wenn Annalie gegen den Tod und um ihre Individualität kämpft und Nikki im Zickzackkurs ein neues Leben beginnt, vergisst man leicht die ansonsten oft durchscheinende 'Versuchsanordnung' des Autors.
Obwohl Cirque 1977 in der Kategorie "Bester Roman des Jahres" für den Nebula Award nominiert war, geriet das Buch bald in Vergessenheit. Schade. Cirque ist gewiss keine ganz große Literatur, ging aber trotzdem diesem Leser oft genug ans Herz. Ich wäre gerne in weiteren Geschichten durch diese Gartenstadt spaziert. Wenn ich fünfzig Bücher auf eine einsame Insel mitnehmen könnte, wäre eines davon dieses kleine Werk von Terry Carr.