Serie / Zyklus: Heyne Bibliothek der SF-Literatur, Band 57 Eine Besprechung / Rezension von Rupert Schwarz |
Charly Gordon ist schwachsinnig und verfügt über einen IQ von bestenfalls 70. Doch dann wird er von einem Wissenschaftsteam für ein Experiment auserkoren. Ziel der Forscher ist es, seine Intelligenz zu steigern. Das Projekt, das zuerst an der Maus Algernon große Erfolge vorwies, wird bei Charly ein voller Erfolg. Nicht nur, dass er einen Intellekt eines normalen Menschen entwickelt - nein er überflügelt sogar selbst die Wissenschaftler, die ihm zu diesem verhalfen und wird zum Genie.
Für Charly gleicht dies einer Achterbahnfahrt der Gefühle, denn all jene, die den Idioten Charly mochten, wandten sich von ihm ab und die Riege der Wissenschaftler verachtet ihn ebenso. Gleich dem Adel, in dessen Reihen ein Bürgerlicher auftaucht, missachten die Forscher Charlys Intellekt. Dann beginnt er selbst, Forschungen zu seiner Intelligenzsteigerung aufzunehmen und stellt mit Entsetzen fest: Sein Zustand ist nicht permanent und ein Rückstürz in seine Idiotenzeit ist nur noch eine Frage der Zeit. Bei der Maus Algernon hat der Verfall bereits begonnen.
Das Buch ist eine Reise in die tiefste Psyche eines Menschen, der verzweifelt seinen Platz sucht. Basierend auf seiner Erzählung "Flowers for Algernon", die 1959 erschien und damals mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, beschreibt nun Autor Daniel Keyes in ausführlicherer Form den Aufstieg und Fall des Charly Gordon, dessen Verstand wie eine Sternschnuppe aufblitzt. Das ausführliche Werk, das 1966 erschien, wurde mit dem Nebula Award ausgezeichnet und 1969 verfilmt.
Der Roman wird in Form von Fortschrittsberichten erzählt, die Charly für das Wissenschaftsteam schrieb und die in Form und Gestaltung Charlys Bewußtseinsentwicklung dokumentieren. Zu Beginn ist das sehr anstrengend zu lesen, denn die einfache Sprache ist mit unzähligen Fehlern gespickt. Doch mit weiteren Fortschritt werden die Texte klarer und durchdachter. In seiner Hochphase schreibt er dann brilliante Berichte (allerdings frage ich mich, ob da die Übersetzung das Ganze nicht etwas abgeschwächt hat, denn eigentlich hätte Charly mit seinen IQ 200+X Berichte verfassen müssen, die für einen normalen Menschen kaum noch nachvollziehbar gewesen wären).
Obwohl Keyes seinen Protagonisten einige Erfahrungen machen lässt (Entdeckung des weiblichen Geschlechts, Wiederentdeckung seiner Familie, Erfahrung von Ablehnung und Neid) weisst der Roman - vor allem in der ersten Hälfte - gewisse Längen auf. Das hätte durchaus gestrafft werden können. Es lässt sich nicht verleugnen, dass es sich hierbei um eine erweiterte Erzählung handelt. Für einen Roman dieser Länge reicht die Idee gerade so aus. Trotzdem: Charly ist ein bewegender Roman und vor allem der geistige Niedergang, denn Charly selbst vorhergesagt hat, schlägt sich in sehr emotionalen Passagen nieder.
Und auch auf philosophischer Ebene ist der Roman ganz besonders, denn die Frage was Menschsein ausmacht, klingt immer wieder an und trotz seiner Intelligenz erkennt Charly, dass er als Idiot glücklicher war, auch wenn er seinen Verstand nicht aufgeben möchte. Dieser scheinbare Widerspruch spiegelt die beiden Sehnsüchte Charlys wieder: Zum einen das Streben nach Wissen und Vollkommenheit auf der einen und die Suche nach Anerkennung und menschlicher Wärme auf der anderen Seite.
Der Roman ist ein wenig in die Jahre gekommen und die Passagen in denen Charly davon spricht, dass ihn das Schreiben mit einer Schreibmaschine das Niederschreiben seiner Berichte erleichtert, regt zum Schmunzeln an. Aber im Prinzip kommt es darauf an, denn im wesentlichen geht es ja um das, was in Charly vorgeht und das ist heute noch genauso aktuell wir vor 40 Jahren. Anders als man nun vermuten möchte, handelt es sich bei dem Roman kaum um einen reinen SF Roman.
Sicherlich geht es um eine Erweiterung der geistigen Fähigkeiten, die heute noch nicht möglich ist, aber die Grundfragen des Romans sind eher philosophischer Natur. So gesehen verwundert es, wenn dieser Roman immer so entschieden dem SF Genre zugeordnet wird. Im Original hieß das Buch übrigens wie die Kurzgeschichte, Flowers for Algernon, und das bezieht sich auf die letzten Zeilen in dem Buch, in dem der bereits wieder schwachsinnige Charly bittet, Blumen auf das Grab seines Leidensgefährten, der Maus Algernon, zu legen. Blumen für Algernon wäre auch ein adäquater Titel im Deutschen gewesen und viel besser als Charly. Aber wie so oft glaubte fälschlicher Weise man, einen besseren Titel zu haben.
8 von 10 Punkten.