Reihe: Abarat, Band 1 Eine Besprechung / Rezension von Thomas Backus
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Stephen King sagt: Ich habe die Zukunft des Horrors gesehen, sie heißt Clive Barker.
Und das stimmt. Die Bücher des Blutes (es gibt sechs davon) sind das Brutalste, aber auch Innovativste, das man sich im Bereich Horror vorstellen kann. Unter diesem Gesichtspunkt überraschte mich dieses Buch total. Abarat ist kein Horror (auch wenn es bisweilen ganz schön gruselig ist), sondern märchenhafte Fantasy. Aber auch in diesem Genre zeigt Clive Barker, was Innovation ist. Elfen und Zwerge kann ja jeder.
Dabei fängt alles ziemlich banal an. Candy Quackenbush soll für die Schule zehn interessante Fakten über Chickentown aufschreiben. Nur hat diese kleine Stadt in Minnesota nichts zu bieten, außer der ansässigen Hühnerschlachtereien. Aber die Hühner, oder was mit ihnen passiert, interessieren Candy nicht die Bohne.
Ihre Mutter schickt sie in das Hotel der Stadt, wo Candy von einem Mann erfährt, der sich umbrachte. Seine Frau hatte ihn verlassen, und er war es satt, auf das Meer zu warten. Dass der Tote in dem Zimmer spukt, gilt als erwiesen.
Das sind Fakten, die Candys Interesse wecken, die die Lehrerin aber nicht akzeptieren will. Es kommt zu einem Streit im Klassenzimmer, bei dem sich Candy zu recht unfair behandelt fühlt – statt sich beim Direktor zu melden, verlässt Candy die Schule. Als sie dann das Ende der Straße erreicht (was durch ein Schild noch betont wird: STRASSE ENDET HIER),geht sie einfach weiter!
Sie gelangt dann an einen verfallenen Leuchtturm, was sie doch sehr verwundert, denn weit und breit gibt es hier kein Meer, nicht mal einen See.
Es kommt aber noch seltsamer. Sie begegnet einem Geschöpf mit einem Geweih. Das ist aber kein Hirsch oder so, denn es hat menschliche Gestalt. John Mischief ist es, und seine Brüder John Fillet, John Sallow, John Moot, John Drowze, John Pluckitt, John Serpent und John Slop, und diese Brüder sind eigentlich nuur Köpfe, die John Mischief auf dem Geweih mit sich führt.
Die Johns sind auf der Flucht vor einem bösartigen Geschöpf namens Mendelson Shape.
Er war doppelt so groß wie Mischief, und seine groteske Anatomie hatte etwas Spinnenartiges. Seine fast fleischlosen Gliedmaßen waren so lang, dass man sich ohne weiteres vorstellen konnte, er würde damit Wände hochkrabbeln. Auf dem Rücken hatte er ein kurioses Gebilde aus vier kreuzförmigen Stangen, wie Schwerter, die mit seinem knochendürren Körper verschmolzen waren. Von einer gestreiften kurzen Hose abgesehen, war er nackt, und er hinkte stark. Dennoch war nichts Gebrechliches an ihm. Trotz mangelnder Muskelmasse und trotz seiner Gehbehinderung wirkte er wie ein Lebewesen, das dazu geboren war, anderen Leid zuzufügen. Sein Gesichtsausdruck war freudlos und griesgrämig, von Hass auf die Welt erfüllt.
(Seite 62)
Na, ist das ein Bösewicht? Nein, das ist nur der Handlanger!
Die Johns bitten Candy, das Licht des Leuchtturms einzuschalten, während sie Mendelson ablenken, und das gelingt dem Mädchen auch, obwohl dem ganzen eine Technik zugrunde liegt, die sich sehr von der bekannten unterscheidet. Und dann kommt das Izabella-Meer, das sie in den Abarat führt.
Der Abarat ist eine Welt, die aus 25 Inseln besteht. Für jede Stunde des Tages eine, und eine Insel für die Zeit außerhalb der Zeit. Dort herrscht eine Fehde zwischen Tag und Nacht, und der Bösewicht, der hinter Mendelson Shape steht, ist Christopher Carrion, der Fürst der Mitternacht.
Es war eine tiefe Stimme, in der – selbst wenn es um die belanglosesten Fragen ging – immer eine leise Verzweiflung mitschwang. Es war die Stimme eines Mannes, der in Abgründe geblickt hatte.
(Seite 140)
Der Kragen war zudem mit einer blauen Flüssigkeit gefüllt, die jetzt Plötzlich aufleuchtete, augenscheinlich durch das Wirken mehrerer schlangenartiger Gestalten.
(...)
Offenbar machte ihm ihre Nähe Vergnügen, bereitete ihm möglicherweise sogar Trost. Als eine von ihnen übers eine Haut strich, lächelte er jedenfalls, wenngleich dieses Lächeln so grässlich war, dass Mendelson am liebsten davongelaufen wäre:
Aus Naws Erzählungen wusste er, warum Carrion auf diese Weise lächelte und was es mit diesen hellen Figuren ind er Flüssigkeit auf sich hatte. Carrion hatte einen Weg gefunden, alle albtraumhaften Gedanken und Bilder aus seinen Gehirnwindungen herauszuleiten und ihnen diese halb körperliche Gestalt zu geben. Er sog die Flüssigkeit wie Atem ein, die flackernden Formen krochen ihm durch Mund und Nasenlöcher und tränkten seine Seele mit den eigenen Albträumen.
(Seite 140+141)
Carrions Gesicht hatte etwas Skelettartiges, die Male um seinen Mund (Gerüchte besagten, dass Mater Motley, seine Großmutter, ihm einst die Lippen zusammengenäht hatte) wirkten wie die Zähne eines Totenschädels, die trockene Haut oberhalb der Flüssigkeit schien nahezu mumifiziert zu sein. Allein seien Augen verrieten Lebendigkeit. Eine Lebendigkeit freilich, die unwiderruflich dem Wahnsinn verpflichtet war.
(Seite 143)
Ja, das ist nun der Bösewicht. Na ja, zum Teil. Der Fürst der Mitternacht ist eigentlich eine gequälte Seele. Er hat sich nämlich in die Prinzession Boa verliebt, und versprochen durch ihre Heirat den Krieg zwischen Tag und Nacht ein für alle Mal zu beenden. Allerdings vermochte ihn die Prinzessin nicht zu lieben, trotz aller Versprechen, sich zu ändern.
Seine Großmutter, die ist das absolut Böse, sie nähte ihm tatsächlich die Lippen zu, weil er sich wagte, das Wort Liebe auszusprechen!
Candy befindet sich nun im Abarat. Sie gerät in irgendwie immer in irgendeinen Schlamassel. Sie macht sich Feinde, aber sie macht sich auch Freunde. Sie sagt dann immer „Ich bin nichts Besonderes, ich bin doch nur ein Mädchen“, aber das stimmt nur bedingt. Allein durch ihre Anwesenheit im Abarat löst sie Ereignisse aus, die sich auf die gesamte Welt auswirken!
Die Geschichte hat sehr viel Märchenhaftes an sich. Ein einfaches Mädchen, das viele Prüfungen bestehen muss, die Mut und ein reines Herz erfordern. Der Kampf Gut gegen Böse – wobei das Böse wirklich sehr Böse ist. Und deswegen ist das Buch nicht unbedingt für Kinder geeignet.
Dabei besticht das Buch durch einen Fantasiereichtum, der mich echt umgehauen hat.
Es gibt noch eine Besonderheit zu erwähnen: Die unzähligen Ilustrationen, die von Clive Barker selbst stammen. Sie durchziehen in schwarzweiß das gesamte Buch – und am Ende befindet sich eine 30seitige, farbige (!) Übersicht der 25 Inseln des Abarat, ein Auszug aus Klapps Almanach(der in dem Roman eine Rolle spielt). Und das alles zum freundlichen Taschenbuchpreis!
Das mit Abstand beste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe. Allerdings endet es mit einem Cliffhanger – es geht nahtlos weiter in Abarat: Tage der Wunder, Nächte des Zorns!
1: Abarat
2: Tage der Wunder, Nächte des Zorns
3: In der Tiefe der Nacht
4: The Dynasty of Dreamers (noch nicht auf deutsch erschienen)
5: ???
Eine Textstelle gefällt mit besonders gut. Ich mag sie hier zitieren, um die Sprachgewalt der Geschichte noch einmal zu unterstreichen:
Seine lange, gedankenvolle Wanderung hatte ihn mittlerweile in das Innere des Waldes geführt, dorthin, wo die großen Galgen der Vergangenheit standen. Bei einigen hingen noch die verrotteten Schlingen an den Balken, und an manchen dieser Schlingen baumelten die Überreste gehenkter Männer und Frauen, mumifiziert in ihrer letzten, grausigen Stellung, der Mund meist grotesk weit aufgerissen. Zum Teil waren die Zungen von hungrigen Raben herausgepickt worden, und nicht wenige der Vögel dieser Gegend hatten mit den einverleibten Zungen die Stimmen der einstigen Besitzer erworben. Jetzt plapperten sie wie Menschen daher, während sie auf den blutroten Ästen saßen, die aus den Galgen herausgewachsen waren.
(...)
(Seite 214)
Anschließend plappern diese Raben – und was sie plappern, das werde ich hier nicht verraten, aber dieses Kapitel ist ja sowas von geil...