Titel: Seelenvernichter Eine Besprechung / Rezension von Thomas Backus
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Ein Opfer ist dazu da, es richtig fertig zu machen, so ist das nun mal. Ein Opfer ist ein Opfer ist ein Opfer.
Das Leben ist Krieg, beißen oder gebissen werden.
Hass allem, was irgendwie »Lämmermäßig« blickt – Gewalt ist geil!
Dieser erste Absatz lässt schon ein flaues Gefühl in meinem Magen aufkommen. Als dann das nächste Kapitel mit der Überschrift »Die Sektflasche« daherkommt, ahne ich fürchterliches – und das befürchtete trifft tatsächlich ein.
Anja trinkt. Sie befindet sich in Gesellschaft von Alina und ihrer Clique, die sie so hübsch und cool findet. Sie möchte gerne dabei sein, und anfänglich scheint es tatsächlich so, dass sie dazu gehört, irgendwie. Die Beleidigungen klingen wie freundschaftliche Frotzeleien. Aber der Schein trügt. Anja ist nicht eine von ihnen, sie ist das Opfer. Die Situation eskaliert. Sie endet damit, dass die anderen Anja mit dieser Sektflasche vergewaltigen. Anja versucht sich zu wehren, was aber nichts nutzt. genauso wenig wie Betteln oder Weinen. Das Ganze wird dann mit dem Handy gefilmt und als »Entjungferung eines Schweins« verbreitet. Sogar im Internet.
Dieses Buch beschreibt den echten Horror. Die Monster lauern nicht unterm Bett, oder im Schrank. Es sind weder Vampire noch Werwölfe, die sich hier an dem Blut und den Tränen ihrer Opfer sattrinken, es sind ganz normale Jungs und Mädchen. Die wohnen in der Nachbarschaft, und sie gehen in die gleiche Klasse wie Anja.
Sicher, die privaten Partys, die hätte Anja meiden können, aber die Schule nicht. Die ist die Hölle für das 13jährige Mädchen. Sie wird nicht nur beschimpft und verarscht, sie wird auch geschlagen, bespuckt und mit Müll beworfen.
Später wird sie auf einer Klassenfahrt von der gesamten Clique brutal missbraucht, noch später krankenhausreif geschlagen. Und selbst im Krankenhaus terrorisieren sie ihtre Mitschülerinnen....
Was das Buch so wahnsinnig eindringlich macht: Es ist aus der Perspektive des Mobbing-Opfers geschrieben. Anja erzählt, was mit ihr passiert. Wobei ich besonders erschreckend finde, dass sie ihre Peiniger nicht hasst, sondern bewundert. Sie hasst sich selbst. Bezeichnet sich immer wieder als fettes Schwein, als widerliche Hure. Sie redet sich ein, dass sie selbstz nichts mit sich zu tun haben wollte, sollte sie sich kennenlernen ... deswegen mag sie es nicht, sich im Spiegel anzuschauen. Die erbricht sich nach dem Essen (angeblich genießt sie das Gefühl eines schmerzenden Magens, der sich vor Leere zusammenzieht) und Ritzt sich mit Rasierklingen (nur um für 2 Sekunden den seelischen Schmerz zu vergessen).
Sicher, das Mädchen ist krank, aber nicht von sich aus, sondern weil andere sie krank machen, und das ständig.
Als Leser frage ich mich natürlich, warum sie das mit sich machen lässt. Klar, die anderen sind stärker, aber spätestens nach dem Handyvideo mit der Sektflasche hätte man die Polizei verständigen müssen.
Die Antwort ist natürlich Scham. So etwas verschweigt man. Hofft, dass man es irgendwie vergessen kann. Außerdem ist da die ständige Angst, dass eins ich wehren die Situation nur verschlimmert. Anja will ihre Peiniger nicht wütend machen.
Trotzdem wird es schlimmer, schlimmer als man es sich vorstellen kann. Und noch schlimmer. So schlimm, dass Anja am Schluss nur Selbstmord als einzigen Ausweg aus der Hölle betrachtet...
Ich frage mich natürlich auch, warum Außenstehende nicht eingegriffen haben. Nicht alle Schüler gehören zu den Tätern, obwohl so ziemlich alle abfällige Bemerkungen machen und Anja gerne als Nutte bezeichnen. Weil, die Filme haben sie sich natürlich schon angesehen.
Jeder Widerstand wird sofort erstickt. »Bist du auch so ein Opfer« wirkt hervorragend.
Dass die Lehrer nichts mitbekommen haben wollen, finde ich zweifelhaft. Sie sichern sich mit manchen (relativ harmlosen?) Bemerkungen die Sympathie der Schüler. Anja wird von ihnen gemaßregelt, wenn sie im Zuge der Öffentlichen Demütigungen auffällt.
Die Mutter ist hinsichtlich der Bulemie und dem Ritzen überfordert. Der Vater ist gestorben, was die Mutter belastet. Finanziell geht es ihnen auch nicht sonderlich. Anja wird auch wegen ihrer billigen Kleidung verspottet.
Aber das wird hier gar nicht zur Sprache gebracht. Das Buch bietet keine Erklärungen. Im Grunde wird nur Anjas Leiden dokumentiert – bis hin zu den schrecklichsten Details, die man sich nur vorstellen kann!
Warum Alina und ihre Freundinnen an solchen Grausamkeiten ihren Spaß haben (obwohl ich mir nicht einmal sicher bin, dass sie wirklich Spaß haben), wird nie erläutert. Auch nicht das soziale Umfeld, aus dem sie kommen. Wegen der Sprache vermutet man schon, dass es sich hier um eine Hauptschule und Kinder aus einem sozialen Brennpunkt handelt, sicher sein kann man sich jedoch nicht. Warum die Jungs sie vergewaltigen, wenn sie sie doch hässlich finden und ihr sogar eine Tüte über den Kopf ziehen.
Ich meine, dass sie dämlich sind, beweisen die Videos, die sie drehen, und die eindeutige Beweisstücke ihrer Untaten sind. Andererseits befinden sie sich in einem solchen Machtrausch, dass sie wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kommen, dass man diese Beweise gegen sie verwenden kann. Und sie scheinen damit ja auch recht zu haben. (Die anonyme Weiterleitung eines solchen Videos an die Behörden würde ich persönlich als zivile Courage gutheißen).
Nirgendwo steht geschrieben, dass das Buch auf Tatsachen beruht. Auch nicht, dass die Namen der handelnden Personen erfunden oder verändert wurden. Dafür danken die Autoren Anja für Ihre Offenheit. Offensichtlich sind die beschriebenen Grausamkeiten tatsächlich passiert. Das haut einen weg. Denn so schrecklich das Buch stellenweise zu lesen ist, der Gedanke, dass man nicht mehrere Mobbing-Fälle zusammengefasst und die Tatsachen etwas dramatisiert hat, der gibt einem den Rest. Die fiktive Anja aus dem Buch tut einem leid – aber die echte Anja ... oh, mein Gott!
Es fällt mir schwer zu glauben, dass so etwas tatsächlich passiert. Und noch schrecklicher fände ich es, wenn diese Art des Mobbing tatsächlich zum Alltag geworden sein sollte
Es ist nun schon eine Weile her, dass ich zur Schule ging. Das war in einer sehr ländlichen Gegend, und außerdem war es die Realschule. Da gab es auch In-Cliquen. Zu denen gehörte ich auch nicht. Meiner Familie ging es finanziell gar nicht gut, und auch ich trug billige Kleidung. Außerdem fand ich die Gesprächsthemen der beliebten Jungs und Mädchen – saufen, und die Größe des Katers am Tag danach – absolut uninteressant.
Glücklicherweise lag ich damit nicht allein. Wir Außenseiter hatten unsere eigene Clique. Wir unterhielten uns über Bücher, Filme und andere interessante, teilweise philosophische Dinge.
Nicht der iPod ist Dein Freund, Bücher sind es!
Bücher sind gut. Ich lese gerne Horrorromane. Gerne auch blutige, gewalttätige Horrorromane. Auch ich finde Gewalt geil, aber nur in Büchern oder Filmen.
Die haben den Vorteil, dass das Böse am Ende seine gerechte Strafe bekommt. Je böser das Monster, umso schlimmer die Strafe.
In diesem Buch jedoch erfahren wir nicht einmal, was die Täter erwartet. Gut, Anja wird gerettet (sehr gut), sie kommt auf eine neue Schule und findet dort eine Freundin (super), aber was ist mit Alina und Clique? Kommen die in den Jugendknast? Werden sie dort von anderen Gefangenen ebenfalls missbraucht? Kann man sie vielleicht rehabilitieren? Oder foltern sie nun den nächsten Außenseiter?
Was mich auch interessieren würde: Wie reagieren Täter auf dieses Buch. Es zeigt ja nun leider keine Konsequenzen auf. Reichen sie es untereinander herum, wie die Handyvideos. »Guck mal, was für ein Opfer?«
Oder bekommen sie erstmals eine Vorstellung davon, wie sich ihre Opfer fühlen. Sind sie intelligent (oder interessiert) genug, danach ihr Verhalten zu ändern?
Und die Opfer? Führt ihnen Anjas Martyrium vor Augen, dass stilles Erdulden alles nur Schlimmer macht? Dass die anderen erst aufhören, wenn sie gewaltig etwas auf die Finger bekommen?
Das Buch wirft viele Fragen auf, und das tun gute Bücher immer. Man setzt sich mit dem gelesenen auseinander – und vielleicht ändert man die eigene Wahrnehmung, und vielleicht auch das eigene Verhalten. Wer sich nämlich einmischt, ist kein Opfer! Wer sich nicht einmischt, ist auch ein Täter! Und nichts ist so schlimm, dass es nicht noch schlimmer werden könnte!