Eine Besprechung / Rezension von Michael Scheuch |
Gus ist ein kleiner Junge, der einsam im Wald mit seinem Vater lebt. Die Welt ist kalt, in groben Strichen gezeichnet, kein Ort zum Leben sondern einer zum Überleben. Sein Vater schärft ihm wieder und wieder ein: da draußen ist es gefährlich, nur im Wald ist er sicher. Gus Mutter ist lange tot, und seinem Vater geht es immer schlechter. Und Gus ist etwas Besonderes: er trägt ein Hirschgeweih – ist ein so genannter Hybride. Die Welt da draußen liegt hinter einem Zaun – und offensichtlich in Trümmern. Es ist die Zeit nach dem “Unfall”, wie Gus Vater sagt, in der so wenig Kinder geboren werden, dass Gott beschlossen hat, jedes einmalig zu machen. Mit Fell, Krallen oder Geweih. Sagt Gus Vater.
Kaum stirbt dieser an “der Seuche” dringen Fremde in Gus Welt ein – und der gewaltätigste und zynischste von ihnen, Jepperd, bemächtigt sich des Jungen. Er verspricht, ihn ins “Reservat” zu bringen, einen Ort, an dem Hybride wie er in Sicherheit sind. Und es beginnt ein Marsch durch das verwüstete Nebraska, bevölkert von postapokalyptischen Schrecken. Gus hat eine Vorliebe für Süßigkeiten entdeckt, daher nennt in Jepperd “Sweet Tooth” – etwa: Naschkatze.
Der kleine Junge, der nie etwas anderes als den Wald gesehen hat, der nie einen anderen Menschen als seinen Vater traf: zusammen mit dem Leser entdeckt er diese schrecklich kaputte Welt, die nach der Seuche anscheinend das Schlechteste im Menschen freigelegt hat. Gus ist naiv, aber sein Vater hat tiefes Mißtrauen gegen das Draußen in ihm angelegt. Er ist hin- und hergerissen zwischen den Warnungen, mit denen er aufwuchs, und den Verheißungen des “Reservats”. Er will Jepperd glauben, dass der es gut mit ihm meint. Doch wie auch der Leser kann er sich dessen nicht sicher sein – ja, tief im Innern weiß er und weiß auch der Leser, dass es in dieser Welt kaum ein Happy End geben kann.
Die Reise von Gus und Jepperd durch das kaputte Amerika, ein grober Strich, düstere Farben. Wenig Text und Dialog, große Bilder. SWEET TOOTH ist anders als viele andere Comics. Gewalttätig, ja. Und irgendwie trostlos, wenn da nicht die großen Augen des Jungen wären, dieser unverdorbene, nette Kerl, dem man das Beste wünschen möchte. Hilflos muss der Leser mitansehen, wie sich die Geschichte entwickelt.
Der Kanadier Jeff Lemire erschafft mit SWEET TOOTH eine zeitgemäße Post-Doomsday Geschichte, und nutzt alle Freiheiten, die er als Autor und Zeichner in einer Person hat. Vertigo ließ ihm freie Hand für das Abenteuer, nachdem Lemire bereits mit einer Reihe von Werken große Kritikererfolge erzielt hat. Höhepunkt seines Schaffens bis dahin ist die Serie ESSEX COUNTY (deutsch bei Edition 52 erschienen). Auch dieser Entwicklungsroman spielt auf dem Land, abseits der Metropolen, und Hauptperson ist der 10-jährige Waisenjunge Lester, der auf der Farm seines Onkels Kenny die ganze Langeweile des Landlebens zu spüren bekommt. Er flüchtet, zusammen mit dem Tankstellenbesitzer Jimmy Lebeuf in eine gemeinsame Traumwelt, in der er als Superheld Abenteuer besteht. Daneben arbeitet Lemire an weiteren DC-Miniserien und auch am DC-Universe Reeboot mit (SUPERBOY, FRANKENSTEIN, CREATURES OF THE UNKNOWN).
Lakonie ist das hervorstechendste Merkmal von SWEET TOOTH – die Dinge sind, wie sie sind. Kann der unverdorbene Blick eines Hirschgeweih tragenden Jungen die Welt ändern? Die Serie ist auf 40 Ausgaben angelegt, wie Lemire im Mai 2012 bestätigt, und bis dahin ist noch viel Zeit, darauf eine Antwort zu finden. So ist auch der erste Band alles andere als Fast Food – es lohnt sich, sich darauf einzulassen.