Serie: 50 Klassiker Eine Besprechung / Rezension von Rainer Skupsch |
"Man könne Geschichten in Kapiteln, Zeilen und Wörtern schreiben, und das sei `Literatur im eigentlichen Sinn,’ (...) stellte der Schweizer Schriftsteller und Zeichner Rodolphe Töpffer 1845 [fest] und fuhr dann fort: `Man kann Geschichten aber auch in Folgen graphisch dargestellter Szenen schreiben: Das ist Literatur in Bildern.’"
Der Gerstenberg-Verlag hat in den letzten Jahren zu den verschiedensten Themenbereichen der Kunst 50 Klassiker-Bände herausgegeben, die inhaltlich alle gleich aufgebaut sind. Einer kurzen Einleitung folgen fünfzig 4-6 Seiten lange Kapitel zu Klassikern eines bestimmten Themenbereichs, also etwa "Lyrik", "Erfindungen", "Architektur des 20. Jahrhunderts" und vieles andere mehr. Jedes einzelne Kapitel ist dabei gleich aufgebaut. Im Fall des vorliegenden Bandes werden zuerst auf 3-5 Seiten die Geschichte sowie äußere Form eines Comic-Klassikers beschrieben. Anschließend folgt eine weitere, gelb abgehobene und in sehr kleiner Schrifttype bedruckte Seite, die in die Rubriken "Leben und Werk" (Vita des Künstlers), "Wissenswertes", "Empfehlungen" (Auflistung einiger weiterführender Bücher zum Thema) und "Auf den Punkt gebracht" unterteilt ist.
Wie bereits das einleitende Zitat andeutet, nimmt Andreas C. Knigge den Comic als Kunstform durchaus ernst. Gleichzeitig lässt der Aufbau des Buches jedoch keine durchgängig erzählte Entwicklungsgeschichte der Gattung zu. Darum erhält der Leser am Ende der meisten Kapitel unter "Wissenswertes" etwa 300 Wörter zu einem Aspekt der Zeit- oder Gattungsgeschichte. Schlagworte können hier z.B. "Sprechblasen", "Sonntagsbeilagen", "Manga-Boom", "Couleur directe" oder "Der Comics-Code" sein. Unter der Überschrift "Auf den Punkt gebracht" schließlich versucht der Autor, in wenigen Sätzen die Bedeutung des behandelten Comics zu definieren. Zu "Krazy Kat", dem Funny über die Katze, die hoffnungslos in eine Maus verliebt ist und selbst von der Angebeteten geworfene Ziegelsteine als Liebesbekundung (miss)versteht, meint Knigge:
"Verkannt und vergöttert: George Herrimans Krazy Kat ist die abstruseste Liebesgeschichte, die jemals erzählt worden ist, und das vielleicht außergewöhnlichste Meisterwerk, das die Gattung Comic hervorgebracht hat."
Auf den drei vorangegangenen Buchseiten hat der Leser erfahren, dass der Strip in den USA bald nach seinem Erscheinen als erster Geniestreich der Gattung galt. Er war zwar nie ein umwerfender finanzieller Erfolg, zählte zu seinen Bewunderern aber seinen Verleger Randolph Hearst (nicht unwichtig), Präsident Woodrow Wilson und Pablo Picasso. Der Artikel beschreibt die Entstehungsgeschichte von "Krazy Kat" - sowohl mit Blick auf die Veröffentlichungsbedingungen als auch inhaltlich (frühe Versionen; das Monument Valley als Vorbild für den Handlungsschauplatz "Coconino County"). Danach werden die einzelnen Figuren und ihre Beziehungen zueinander beschrieben und noch erwähnt, dass Herrimans Comic Joan Miró zu einem Gemälde animierte. Neben und zwischen dem Text finden sich kommentierte Bilder aus dem Comic (u.a. eine Seite mit diagonal verlaufenden Strips), ein Foto des Autors sowie weitere Zitate des Autors sowie (in diesem speziellen Beispiel) von e.e. cummings.
Alle Kapitel sind nach diesem Muster aufgebaut. Im Schnitt dürfte auf jede Seite des Buches mindestens ein (meist buntes) Bild kommen. Die einzelnen Artikel sind chronologisch so angeordnet, dass man, wenn man den Band von vorne nach hinten liest, durchaus auch einen Einblick in die Geschichte der "neunten Kunst" (wie der Comic seit den Siebzigern in Frankreich heißt) bekommt. Autor Andreas Knigge erklärt den oben zitierten Schweizer Pädagogen Rodolphe Töpffer zum Erfinder des modernen Comics (angeblich äußerte sich sogar der alte Goethe lobend über dessen erste Entwürfe) und wechselt dann nach einem Abstecher zu Wilhelm Busch über den `Großen Teich’ in die USA, wo der Comic Ende des 19. Jahrhunderts als Teil des Zeitungskriegs zwischen den Verlegern Hearst und Pulitzer zum ersten Male wirtschaftliche Bedeutung erlangte und bald seine wesentlichen Merkmale entwickelte. Als wichtig für die graphische Entwicklung erwiesen sich hierbei die Sonntagsbeilagen, die den Künstlern erlaubten, vom Prinzip des schmalen Streifens abzuweichen. Zu dieser Zeit waren alle beliebten Comics Funnies, erst ab etwa 1930 begann in Amerika das Zeitalter der Superhelden (und Comic-Magazine), das nach dem 2. Weltkrieg [zum Glück!] nur bedingt über den Atlantik herüberschwappte, weil sich zu dieser Zeit besonders in Frankreich und Belgien eine eigene Comicindustrie entwickelte, die sich bald von ihren amerikanischen Vorbildern emanzipierte.
Andreas C. Knigges Buch konzentriert sich hauptsächlich auf Werke aus dem nordamerikanischen und französischsprachigen Raum. Wohl weil er sein Buch für deutsche Leser schreibt, finden auch "Nick Knatterton" sowie "Vater und Sohn" Erwähnung. Am wenigsten bietet 50 Klassiker: Comics sicher den Fans des japanischen Mangas, der sehr stiefmütterlich behandelt wird. Zu Knigges Verteidigung könnte man einwenden, dass der Hauptteil seiner Artikel einen Zeitraum von hundert Jahren abdeckt und Mangas erst im letzten Drittel dieser Spanne ins Bewusstsein der westlichen Fans traten. Heute, in Zeiten, in denen die japanische Manga-/Anime-Industrie zur führenden Kraft auf dem Weltmarkt geworden ist, wäre es aber durchaus möglich, einen eigenen Band '50 Klassiker: Mangas' herauszubringen.
Als jemand, der zuvor keine Sekundärliteratur zur Gattung des Comics kannte, habe ich das Buch mit großem Vergnügen gelesen. Über Superhelden weiß ich jetzt mehr, als ich je wissen wollte (und kann künftig Stan Lee von Jack Kirby unterscheiden). Bei anderen Comics besitze ich zumindest ausreichend `Bildungstäuscherwissen’, um bei Internetdiskussionen hier und da einen gelahrten Brocken fallen lassen zu können ("Ja, ja, einer der Hauptvertreter der Connecticut School.")
Nur eine Sache fand ich ärgerlich: Das Buch erschien offenbar kurz nach dem ersten Asterix-Realfilm, weshalb der Verlag daraus mehrere Szenenfotos abdruckte und keine einzige Originalzeichnung. Furchtbar.
INHALT:
1. Monsieur Vieux Bois (Rodolphe Töpffer); 2. Max und Moritz (Wilhelm Busch); 3. The Yellow Kid (Richard F. Outcault); 4. The Katzenjammer Kids (Rudolph Dirks); 5. Little Nemo (Winsor McKay); 6. The Kin-der-Kids (Lyonel Feininger); 7. Krazy Kat (George Herriman); 8. Tim und Struppi (Hergé); 9. Popeye (E. C. Segar); 10. Micky Maus (Floyd Gottfredson); 11. Blondie (Chic Young); 12. Dick Tracy (Chester Gould); 13. Flash Gordon (Alex Raymond); 14. Li'l Abner (Al Capp); 15. Terry and the Pirates (Milton Caniff); 16. Vater und Sohn (e.o. plauen); 17. Prinz Eisenherz (Hal Foster); 18. Tarzan (Burne Hogarth); 19. Superman (Jerry Siegel - Joe Shuster); 20. Batman (Bill Finger - Bob Kane); 21. The Spirit (Will Eisner); 22. Captain America (Jack Kirby - Joe Simon); 23. Donald Duck (Carl Barks); 24. Blake und Mortimer (Edgar P. Jacobs); 25. Spirou und Fantasio (André Franquin); 26. Lucky Luke (Morris); 27. Pogo (Walt Kelly); 28. Tales from the Crypt (Bill Gaines - Al Feldstein); 29. Peanuts (Charles M. Schulz); 30. Nick Knatterton (Manfred Schmidt); 31. Astro Boy (Osamu Tezuka); 32. Asterix (René Goscinny - Albert Uderzo); 33. Barbarella (Jean-Claude Forest); 34. Spider-Man (Stan Lee - Steve Ditko); 35. Blueberry (Jean-Michel Charlier - Jean Giraud); 36. Corto Maltese (Hugo Pratt); 37. Valerian (Pierre Christin - Jean-Claude Mézières); 38. Zap Comix (Robert Crumb); 39. Green Lantern (Dennis O'Neil - Neal Adams); 40. Barfuß durch Hiroshima (Keiji Nakazawa); 41. Die Frustrierten (Claire Bretécher); 42. Adeles ungewöhnliche Abenteuer (Jacques Tardi); 43. Reisende im Wind (FranÇois Bourgeon); 44. Alexander Nikopol (Enki Bilal); 45. John Difool (Alexander Jodorowsky - Moebius); 46. Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit (Serge Le Tendre - Régis Loisel); 47. Akira (Katsuhiro Otomo); 48. Maus (Art Spiegelman); 49. Watchmen (Alan Moore - Dave Gibbons); 50. Understanding Comics (Scott McCloud)
Innenklappen vorn und hinten: Zeitpfeil, auf dem wichtige Comics bzw. Ereignisse der Gattungsgeschichte chronologisch eingeordnet sind.